Wahlfahrt09 » Wahlkampf http://www.wahlfahrt09.de Mon, 03 May 2010 15:28:35 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.2.1 Wahlfahrt09 – das war’s http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wahlfahrt09-das-wars/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wahlfahrt09-das-wars http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wahlfahrt09-das-wars/#comments Mon, 28 Sep 2009 13:29:07 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3404

20090928_wahlfahrt09_reichstag

Foto: Jörn Neumann

DEUTSCHLAND. Deutschland vor der Wahl jenseits der politischen Ballungszentren erleben – die Wahlfahrt09 reiste in 50 Tagen durch 20 Orte im Norden, Süden, Osten und Westen Deutschlands: Dabei führte die Tour über Eisenhüttenstadt hinunter nach Konstanz, über Leidingen nach Duisburg-Marxloh, in den hohen Norden nach Breitenfelde und Wismar, übers Wendland und schließlich nach Haldensleben in der Börde.

Am Wahlfahrt09-Stand zwischen den Fachwerkhäusern der Altstadt Haldensleben. Wochenlang haben wir gewartet, um 18 Uhr sind die Prognose und die ersten Hochrechnungen da: Mehrheit für Schwarz-Gelb. Ein Passant mit Sonnenbrille und Eishörnchen kommentiert: “Also ich hab die nicht gewählt.” Auch das Team der Wahlfahrt09 ist überrascht – denn Menschen, die CDU und FDP nahe stehen, haben wir auf unserer 50-tägigen Reise durch 20 Orte kaum getroffen.

Ein Rückblick auf einen Wahlkampfbesuch auf dem Heumarkt in Köln vor zwei Wochen: An diesem Abend wird Steinmeier auftreten, schon am frühen Nachmittag prangt der überdimensionale SPD-Würfel auf dem leeren Platz. Die Volkspartei gibt sich modern und interaktiv: Die Jusos haben junge Frauen angestellt, die andere Frauen mit einem „Ich kann Aufsichtsrat“-Schild fotografieren. An einem Touchscreen lassen sich personalisierte Wahlkampfprogramme ausdrucken. Eine Hartz-IV-Empfängerin humpelt über den Platz. Nach zwei Bandscheibenvorfällen kann die ehemalige Fleischerin nicht mehr arbeiten. Sie will sich Steinmeier nicht ansehen, denn die Politiker, sagt sie, lügen doch alle.

Viele sehen keine Perspektive mehr

„Wir dürfen das Ziel der Vollbeschäftigung nicht aufgeben“, tönt Steinmeier am Abend auf dem Höhepunkt seiner Wahlrede. Es wirkt antrainiert, ein reiner Slogan. Selbst Stammwähler der Partei, die in einer Kneipe am Rand sitzen, überzeugt das nicht. In ganz Deutschland gibt es zur Zeit 3,47 Millionen Arbeitslose, Tendenz steigend. Die Schaffung von Arbeitsplätzen steht in jedem Parteiprogramm – bei einigen auch gemeinsam mit dem kleinen Bruder der Vollbeschäftigung, dem Mindestlohn. Menschen wie die Fleischerin treffen wir oft auf der Wahlfahrt: Die sich von niemandem repräsentiert fühlen, die vieles verloren haben, die keine Perspektive mehr für sich sehen.

In Wismar sind durch die Schließung der Werft 1200 Menschen in Kurzarbeit. In Halle hat der Strukturwandel ganze Stadtteile entvölkert. Die Krise findet sich sogar in wohlhabenden Kommunen wie Konstanz – dort waren in diesem Jahr die Campingplätze ausgebucht, weil viele Deutsche kein Geld mehr für den Auslandsurlaub haben. Selbst in Wiesbaden mit seiner hohen Millionärsdichte stehen die Arbeitslosen trotz öffentlichem Trinkverbot in den Seitenstraßen.

Deutsche Problemecken

In Duisburg-Marxloh, wo türkische Brautmodenläden viele deutsche Geschäfte verdrängt haben, bevölkern vor allem Deutsche die „Problemecken“ des Stadtteils. So nennt der dortige CDU-Bürgermeister Adolf Sauerland die deutschen Drogenabhängigen auf den Bänken am Marktplatz, die seit der Schließung der Fixerstube keinen Anlaufpunkt mehr haben. In der Marktklause gegenüber von unserem Stand sitzen schon früh morgens die Alkoholiker und trinken ihre Schnäpschen zu lauter 80er Jahre Schlagermusik. Zwischen denWahlkampfplakaten von Linkspartei und SPD hängen Schilder mit dem Slogan „Aufbau Duisburg statt Aufbau Ost“.

Diese Beobachtungen sind zum Teil natürlich auch dem Konzept der Wahlfahrt09 geschuldet: Wir parken an zentralen Plätzen der Stadt, arbeiten dort an Biertischen unter freiem Himmel. Natürlich treffen wir also vor allem Leute, die keinen Ort haben, an dem sie sein müssen: Arbeitslose, Rentner, Obdachlose. Ihre Probleme bekommen wir auf der Wahlfahrt09 besonders häufig mit. Viele sind unzufrieden: Sie bekommen zu wenig Rente, zu wenig Hartz IV, reden sich in Rage, werden laut, deuten mit Zeigefingern auf uns, wenn sie die Politiker beschimpfen, mal als Abzocker, mal als Lügner, mal als Verbrecher.

Aufbau Ost, Abbau West

Das ist 20 Jahre nach der Wiedervereinigung im Osten wie im Westen gleich. In Eisenhüttenstadt, wo seit der Wende tausende Arbeitsplätze verloren gegangen sind, wird gerade für 630 Millionen Euro ein neues Papierwerk gebaut, gefördert mit Mitteln der EU – ein Tropfen auf den heißen Stein, gerade mal 600 neue Arbeitsplätze sollen entstehen. Im niederfränkischen Hof leiden die Betriebe unter der Konkurrenz aus dem Osten, die noch gefördert wird – während im Westen, wo nichts zu fördern ist, das Problem der Arbeitslosigkeit viel stärker zu Tage tritt.

Dort lässt sich die Arbeitslosigkeit noch nicht einmal mit dem Versagen des Sozialismus erklären. Unsere Reise macht deutlich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen und die Verwerfungen in der internationalen Arbeitsteilung viel weiter reichen, als es die Deutschen wahrhaben wollen. Mag sein, dass Deutschland Exportweltmeister ist, dass eine zukünftige Bildungsoffensive oder der Ausbau regenerativer Energien und grüner Technologien zukünftige Generationen beschäftigen wird – aber Hunderttausende sind im Hightechland überflüssig geworden. Sie sitzen jetzt in den Problemecken, lungern vor dem Supermarkt herum, sammeln Flaschen und durchwühlen Mülleimer.

Engagement und Gesicht zeigen

Doch es gibt auch Lichtblicke: Es kommen viele engagierte Menschen zum Wahlfahrt09-Stand. Sie arbeiten ehrenamtlich für Bürgerinitiativen, den städtischen Sicherheitsdienst in Görlitz oder als Sporttrainer im Wismarer Kanuverein. Menschen, die sich für konkrete Anliegen engagieren: Der Rentner, der sich für das deutsch-polnische Verhältnis in der Grenzstadt Görlitz-Zgorzelec einsetzt und gegen die NPD Gesicht zeigt; der Azubi, der in seiner Freizeit im Bürgerradio die Spitzenkandidaten des Landtags interviewt oder die Studenten vom Postkult e.V. in Halle-Glaucha, die mit einem Gemeinschaftsgarten gegen den Leerstand in ihrem Stadtteil ankämpfen und die Bürger dort wieder zusammen bringen wollen. Viele von ihnen sind Bildungsbürger, Rentner, Akademiker und Studenten.

Auf eine Bewegung der sozial Schwachen treffen wir aber nicht. Ein LKW-Fahrer, den wir auf einem Rastplatz trafen, drückte es so aus: „Wir könnten ja mal demonstrieren gehen. Aber dafür geht es uns wohl noch nicht schlecht genug.“ Nur einige Hartz-IV-Empfänger in Wiesbaden machen den Gegenangriff auf die öffentliche Wahrnehmung: Die „Initiative neue soziale Gerechtigkeit“ plakatiert alle zwei Wochen die Stadt mit schwarzweißen Postern, auf denen sie von Schikanen, Demütigungen und rechtswidriger Behandlung von Hartz IV-Empfängern sprechen und die Mitarbeiter zuständiger Behörden namentlich anprangern. Mehrheitsfähig sind sie mit ihrem umstrittenen Vorgehen aber nicht.

Ganz besonders leise sind die Frauen. Wir sprechen Passantinnen gezielt an, weil von selbst immer nur die Männer kommen. Sie sagen zwischen den Zeilen, dass sie in der Krise Besseres zu tun haben als zu politisieren. Wer soll sich um Kinder und Haushalt kümmern, wenn die Männer auf den Straßen abhängen? Wie das Überleben sichern? Manch eine gesteht, dass es ohne die Lebensmittelspenden von der Tafel nicht ginge.

Afghanistan, Europa und Außenpolitik sind kein Thema

Wohl auch, weil die Bundeswehr ein sicherer Arbeitgeber ist, gibt es von den Menschen, die im Bundeswehrstandort Sigmaringen leben, kaum Kritik am Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Nur selten gab es so etwas wie grimmige Solidarität und Unterstützung für “unsere Jungs da unten”. Für viele junge Männer sind die Bonuszahlungen für Auslandseinsätze eine willkommene Einnahmequelle, auch wenn nur wenige wirklich vom Sinn des Einsatzes überzeugt sind. Afghanistan ist ein Thema, das weder im Wahlkampf noch in unseren Gesprächen an vorderster Stelle stand. So war es auch mit anderen außenpolitischen Fragen, etwa wie Deutschland sich innerhalb Europas positioniert.

Aus der Perspektive der ausländischen Wahlbeobachter, die wir am Rande eines Wahlauftritts von Gregor Gysi in Halle trafen, ist besonders die wichtigste Frage im Wahlkampf ausgeklammert worden: Wie die Wirtschaftskrise und das Arbeitslosenproblem eigentlich konkret gelöst werden sollen, sobald die Wahl vorbei ist. Der Franzose Jay Rowell wundert sich: „Es müssen schmerzhafte Entscheidungen getroffen werden, wie der Haushalt saniert werden soll, durch Kürzungen oder Steuererhöhungen.“ Offenbar gebe es einen Konsens, „diese schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen.“

Auch sein holländischer Kollege Ton Nijhuis wundert sich über den Wahlkampf: Wenn viele Menschen nicht daran glaubten, dass die Politik die Arbeitslosigkeit bekämpfen könne, werde das von den Wahlforschern als „Politikverdrossenheit“ interpretiert: „Ich würde sagen, das ist Realismus erwachsener Bürger, die genau wissen, dass man viele Versprechungen aus dem Wahlkampf nicht einhalten kann.“

Die Wahlfahrt09-Analyse

Gleichzeitig fischt Gregor Gysi auf dem Hallenser Marktplatz nach Proteststimmen: „Selbst wenn Sie Grüne oder SPD wählen wollen – wenn Sie wollen, dass diese Parteien wieder sozialere Politik machen, müssen Sie die die Linke wählen.“ Protest wählen scheint vielen Menschen die letzte Lösung zu sein: Linkspartei, NPD oder ungültig stimmen.

Die politische Stimmung im Land, das ist das Fazit der Wahlfahrt, ist stark abhängig von der ganz persönlichen Lebenssituation der Menschen. Die Grünen wählen diejenigen, die unter Flugschneisen und in der Nähe des Atommüll-Zwischenlagers in Gorleben wohnen.

Und so betrachten wir am Ende unserer Reise das Wahlergebnis aus der Perspektive unserer Gesprächspartner: Zwar hat die Koalition aus CDU und FDP genug Stimmen bekommen, um das Land zu regieren. Aber nimmt man die rund 30 Prozent Nichtwähler und die vielen Protestwähler zusammen: Dann stehen hinter diesem Wahlergebnis vor allem Millionen Deutsche, die ein Gefühl eint: Keine Wahl gehabt zu haben.

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„Die Leute stehen sehr still da und klatschen höflich“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%e2%80%9c/#comments Fri, 25 Sep 2009 16:28:00 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3466 Sabado

Foto: Jörn Neumann

HALLE.Hilda Sabato ist Professorin für Geschichte an der Universität Buenos Aires. Seit sie 2003 Fellow des Wissenschaftskolleg zu Berlin war, besuchte sie das Land regelmäßig. Unter anderem ist sie spezialisiert auf Wahlen und Wahlkampf.

„Bisher war das, was ich vom Wahlkampf mitbekommen habe, sehr langweilig. Es gibt kaum echte Themen, über die sich die Parteien streiten. Heute bei Gysi war das anders. Und ich denke, die Leute waren auch überzeugt. Das sind ganz andere Menschen, die hier in Halle im Publikum stehen. In München, als wir bei Westerwelle waren, trugen die Frauen alle elegante Kleidung. Die jungen Leute sahen gesund aus, die Männer waren gut angezogen. Eine reiche Stadt – und dort kam Westerwelle sehr gut an. Hier in Halle sieht man, dass es den Menschen nicht so gut geht. Und ich habe das Gefühl, Gysi spricht genau zu diesen Menschen.
Bei Künast hat es mir auch gut gefallen. Die Grünen waren alles sehr nette Leute, die überzeugt sind, dass die Dinge besser werden müssen. Ich denke, die Grünen kommen gut an bei Menschen, die Zeit zum Zuhören, Lesen und Nachdenken haben, ein weniger emotionaler Ansatz. Dagegen haben Guido und Gysi eher Slogans, sind eher emotional. Aber das ist auch ein Zeichen kleiner Parteien, dass ihre Botschaft stärker ist, indem sie zeigen, wie sehr sie sich von den Volksparteien unterscheiden.

Ich bin Historikerin und eines meiner Themengebiete ist Leadership, also die Führung von Bevölkerung. Aus argentinischer Warte interessiert mich auch, wie die Deutschen mit der Krise umgehen. Während es bei uns ein richtiges Machtvakuum gab, scheint es aus der Ferne, als habe Deutschland die Krise bislang gut gemeistert. Aber interessant ist doch, dass die Menschen hier bei den Veranstaltungen so ruhig sind. Sie klatschen höflich, aber das wars. Ich vermute, dass viele Leute nicht richtig betroffen sind und deswegen der großen Koalition dankbar sind. Das ist so das, was ich bei Gesprächen auf der Straße mitbekommen habe: Dass es wenig Streit gegeben hat in der Krise. Auf der anderen Seite beschweren wir uns, dass der Wahlkampf langweilig ist.

Es ist schon überraschend, wie ordentlich und zivilisiert dieser Wahlkampf abläuft. Selbst heute bei Gysi, wo gesungen und geschrien wurde und einige Plakate hochgehalten haben. Die Argentinier sind da viel temperamentvoller. Die Deutschen denken nicht, dass diese Wahl ihr Leben verändern wird. In Argentinien haben wir erst seit 20 Jahren eine Demokratie. Und wir denken jedes einzelne Mal, dass alle politischen Handlungen, insbesondere die Wahlen, unser Leben verändern können. Das ist zwar nicht so, aber wir denken es. Also reagieren wir sehr emotional auf Politik. Dazu kommt, dass es viele Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen in Argentinien gibt, die im Wahlkampf an die Oberfläche kommen. Auch das ist hier nicht so. Die Menschen hier stehen sehr still da und hören zu. Ich glaube trotzdem, dass die Botschaft ankommt.“

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„In der Türkei würden tausende von Leuten kommen“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9ein-der-turkei-wurden-tausende-von-leuten-kommen%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259ein-der-turkei-wurden-tausende-von-leuten-kommen%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9ein-der-turkei-wurden-tausende-von-leuten-kommen%e2%80%9c/#comments Fri, 25 Sep 2009 15:43:34 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3477

Foto: Jörn NeumannFoto: Jörn Neumann

HALLE. Prof. Dr. Hüseyin Bagci ist seit 1992 Vize-Vorsitzender des Department für Internationale Beziehungen an der Middle East Technical University. Prof. Bagci beschäftigt sich besonders mit Internationaler Sicherheit, Europa-Themen, deutscher und türkischer Außenpolitik.

Was sagen Sie zum Wahlkampf in Deutschland?

Ich denke, es wird eine schwarz-gelbe Koalition geben.

Warum?

Merkel wird gewinnen, die CDU wird wieder stärkste Partei. Und auch die FDP hat zuletzt viel hinzugewonnen, Westerwelle hat sich in der Tat zu einem Staatsmann entwickelt. Ich finde schwarz-gelb auch besser für Deutschland. Vom Ausland haben wir gesehen, wie die großen Parteien für das Gute des Landes zusammen arbeiten können und Deutschland aus der Krise geführt haben. Sie sind ideologisch gesehen voneinander sehr unterschiedlich, aber sie haben durch realistische Herausforderungen zueinander gefunden. Es könnte sein, dass CDU und FDP für eine Reformpolitik im wirtschaftlichen Bereich schneller Entscheidungen treffen können als in einer Koalition mit der SPD.

Wie sehen Sie Merkel und Steinmeier?

Ich denke, dass Merkel Bundeskanzlerin bleibt. Herr Steinmeier ist zwar gut als Außenminister, aber er hat nicht einen bissigen Charakter wie Brandt oder Schmidt. Er ist mehr Bürokrat als Politiker. Bei Frau Merkel ist das anders.

Hätte einer von beiden Chancen in der türkischen Politik?

Ja, beide! Frau Merkel auf jeden Fall, wir hatten ja auch schon in den 90ern eine Ministerpräsidentin, Tansu Ciller. Wir haben unsere Erfahrungen vor den Deutschen gemacht (lacht).

Beiden wird ja oft vorgeworfen, sie seien langweilig…

Das ist unvermeidbar, weil sie miteinander koalieren. Auch menschlich gesehen ist es sehr schwer, jemanden anzugreifen, mit dem man fast jeden Tag Politik macht. Das natürliche Ergebnis dieser Koalition ist, dass beide nicht so aufeinander einschlagen, wie wenn einer in der Opposition wäre. Die Besonderheit dieser Wahl ist, dass beide Seiten die Verantwortung übernommen haben und die Krise gemeinsam gemeistert haben. Von Außen gesehen bewundern wir die deutsche Demokratie und Krisenbewältigung, dass Deutschland es geschafft hat, mit so wenigen Schäden aus der Krise zu kommen.

Es gibt 2,4 Millionen Türken oder türkischstämmige Leute in Deutschland, 700.000 von denen dürfen wählen, was sagen Sie denen?

Ach, die wissen selbst, was sie wählen, die meisten natürlich SPD oder die Grünen mit Cem Özdemir.

Wie wichtig ist für die Türkei die Frage des Beitritts zur EU?

Wir sind ja in Verhandlungen, und alle in der Türkei wissen, dass das nicht in der nächsten Woche kommt, sondern dass es noch mindestens zehn Jahre weiterläuft. Wichtig ist, dass die Türkei nicht aus diesem Reformprozess rausfällt. Am Ende muss man auch die Europäische Union als Partner sehen, nicht die Regierungen der Mitgliedsstaaten. Die müssen die Entscheidung der EU dann respektieren. Bis jetzt hat Deutschland, kein einziges Kapitel verhindert im Verhandlungsprozess, man kann nicht sagen, dass Deutschland dagegen ist, im Gegensatz zu Frankreich oder Griechenland. Die Mitgliedschaft wird nicht schnell starten, das wissen wir. Die Europäische Union ist ein wichtiger externer Faktor für die Demokratisierung der Türkei.

Welche Themen sind Ihnen im Wahlkampf aufgefallen?

Viele Problem, von denen man hier redet, sind bei uns keine Probleme. Aber Deutschland ist eine postindustrielle Gesellschaft, hier ist eine andere Gesellschaftsstruktur als in der Türkei, aber Bildungspolitik hat mich stark beeindruckt, Umweltpolitik, auch was die Arbeitslosigkeit und die Rente angeht, das wären auch Themen in der Türkei.

Was hat Sie überrascht?

Die Deutschen sind sehr ruhig bei Wahlkundgebungen. Bei uns ist es bunt und laut, viele Leute gehen hin. Bei uns ist Demokratie noch Erziehungsprozess, hier sind die Leute viel geübter, auch kulturell ist es anders. Wir haben die Chefs der kleinen Parteien gesehen, in der Türkei würden Tausende von Leuten kommen um sie zu sehen, gestern habe ich Westerwelle in München gesehen, der eventuell Außenminister wird, da waren nicht mehr als 700 Leute, in der Türkei würden das zehn- oder zwanzigtausend sein.

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“Die Deutschen lieben Obama, aber trotzdem hassen sie Amerika!” http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-deutschen-lieben-obama-aber-trotzdem-hassen-sie-amerika/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-deutschen-lieben-obama-aber-trotzdem-hassen-sie-amerika http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-deutschen-lieben-obama-aber-trotzdem-hassen-sie-amerika/#comments Fri, 25 Sep 2009 08:55:19 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3286 Foto: Jörn NeumannFoto: Jörn Neumann

HALLE. Andrei Markovits, Politikprofessor an der University of Michigan in Ann Arbor, veranstaltet zu jeder Bundestagswahl einen Wettbewerb unter seinen Studenten: Wer den Ausgang am besten tippt, bekommt eine Schwarzwälder Kirschtorte. Markovits selbst lag 2005 als Zweiter nur knapp daneben, diesmal tippt er folgendermaßen: SPD 26,8%, CDU 34%, FDP 13%, Grüne 9,2%, Linke 11,5%.  Er hat Einblick: Gerade ist er mit einer DAAD-Gruppe als Wahlbeobachter in Deutschland unterwegs. Mit der Wahlfahrt sprach er über den Niedergang der SPD, das Verhältnis zu Amerika und Obama im deutschen Wahlkampf – währenddessen lief im Hintergrund die Wahlkampf-Abschlussveranstaltung der Linkspartei mit Hauptredner Gregor Gysi auf dem Marktplatz von Halle.

Professor Markovits, gerade redet Gregor Gysi, wollen Sie den eigentlich nicht mit anhören?

Ach, er ist ein guter Redner, aber ich kenne ihn hervorragend, ich habe ihn schon 50 Mal gehört. Und ich schreibe gerade wieder ein Paper über ihn, im Vergleich mit Bruno Kreisky. Gysi als assimilierter Jude, bei dem das aber gar keine Rolle spielt, gegenüber Kreisky, bei dem jede Sekunde sein Judensein ein Issue war, für ihn, für Österreich, für beide, es war ein dauernder Tanz. Wenn das hier Westdeutschland wäre, würde es mich nicht interessieren, dort gab es ja eine Vergangenheitsbewältigung, aber in Österreich und im Osten nicht. Deswegen sind hier heute Rechtsradikalismus und Autoritarismus viel stärker als im Westen.

Sie nehmen das fünfte Mal an einer Wahlbeobachterreise in Deutschland teil. Was ist anders?

Ich erlebe den Wahlkampf eigentlich nicht viel anders, 1983, 1987, 1990, 1994, da war ich schon hier. Die Reise war anders, nur Männer, und eigentlich nur Amerikaner, Kanadier, Briten, Franzosen, Italiener. Und jetzt sind eine Nigerianerin, ein Chinese, ein Thailänder, eine Argentinierin dabei – die Welt ist anders! Und Deutschland ist größer geworden, damals sind wir nicht geflogen, nur mit dem Bus gefahren.

Und inhaltlich?

1983 war für mich sehr spannend, weil die Grünen gewonnen haben. An dem Abend hab ich Joschka Fischer kennengelernt. Das führte später zu meinem Buch “Grün schlägt Rot”.

Ist der Niedergang der SPD ein Resultat des Aufstiegs der Grünen?

Ich meinte nicht die Parteien, sondern dass der Welt-Diskurs vergrünt wird. Das ist so. Absolut. Und die SPD blutet, weil die Grünen das alles besetzt haben. Aber es gibt auch andere Gründe: Die SPD ist eine industrielle Männerpartei, es gibt heute weniger Industrie, und die Frauen sind ein viel wichtigerer Faktor. Aber das ist kein deutsches Problem, schauen Sie sich die SPÖ an! Die Labour Party, alle!

Welche Themen stehen für Sie im deutschen Wahlkampf im Vordergrund?

Es gibt keine übermächtigen Themen. Mich überrascht, dass es keine außenpolitische Debatte gibt. Das ist zwar nie entscheidend in einer liberalen Demokratie, aber Afghanistan, die Rolle der Nato – das ist null Thema! Oder Europa – das zeigt, dass die Europäische Union ein Konstrukt ist. Eine europäische Identität spielt in den Herzen der Leute keine Rolle . Nur wenn es um Amerika geht, ist das anders.

Wie meinen Sie das?

Die Europäer fühlen sich nur als Europäer, wenn es im Kontrast zu Amerika ist. “Wir Europäer sehen die Sache mit Kyoto anders.” Das ist eine emotionale Bindung, ein “Us versus Them”. Ansonsten ist Euroa aber kein emotionales Thema, und Emotionen sind das Wichtige in der Politik.

Also gibt es eher eine emotionale Bindung zu den USA – sind deswegen alle Deutschen Obama-Fans?

Es ist seltsam: Sie lieben Obama, aber trotzdem hassen sie Amerika! Diese Obama-Manie ist die andere Seite des Antiamerikanismus. Er wird als Europäer konstruiert, als kultiviert und Gegenstück zu Bush, als sensibel und fast als Sozialdemokrat. Doch das Bild bricht langsam. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, etwa über Afghanistan, wird diese Love Affair bald aufhören. Für mich ist diese Obamanie und die europäische Sicht auf Amerika total inkongruent.

Obama als Europäer? Dabei ist er doch eigentlich der Prototyp des American Dream…

Ja,  aber manche Europäer haben ein inferiores Bild auf Amerika. Das hat eine lange Geschichte, weil Amerika das erste nicht-aristokratische Land ist, das hat auch die deutsche linke Intelligenza übernommen. Ich finde das anmaßend: In Europa wäre es undenkbar, dass ein Halbschwarzer aus Kenia Stammender deutscher Kanzler wird. Oder zum Beispiel ein türkischstämmiger Bodybuilder Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Da ist Amerika Europa weit voraus!

Macht es für die USA einen Unterschied, wer in Deutschland die Wahl gewinnt?

Ich würde sagen: Null. Das ist dort total egal.

Die deutschen Parteien würden so gern Obama nacheifern. Haben Sie das im deutschen Wahlkampf gesehen?

Nach diesem faden Fernsehduell die Schlagzeile “Yes we gähn”, das war brillant! Aber im Wahlkampf ist hier nichts Ähnliches zu sehen. Wobei sich die Systeme auch nicht vergleichen lassen, das wäre nicht wie Äpfel und Birnen, sondern Äpfel und Kürbisse. Allein die Herangehensweise: Wir haben Frau Künast in Freising gesehen, mittags um 12 Uhr, vor 50 Leuten, und allein wir waren schon 20 davon. Ich habe nicht verstanden, warum sie das gemacht hat. Warum gehe ich in ein Land, wo ich eh nicht gewinnen werde, da gehe ich doch wenn dann nach München wie der Westerwelle. Aber ich bin mir sicher, der Grünen-Campaignmanager weiss, was er tut.

Welche Eindrücke nehmen Sie sonst mit aus Deutschland?

Etwas Tiefgründiges? Null! Aber indem ich nichts Wichtiges oder Erschütterndes mitnehme, sehe ich, dass es eine gut funktionierende, etwas fade, stabile Demokratie ist, in der die Entscheidungen wie in jeder guten Demokratie relativ klein oder nicht weltbewegend sind. Ob wir nun rot-schwarz oder schwarz-gelb in den nächsten Jahren haben – das ist eigentlich ziemlich wurscht.

Der Pole – “Der Europagedanke ist in Deutschland in der Krise”

Der Holländer – “Den Niedergang der Volksparteien haben wir schon hinter uns”

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„Den Niedergang der Volksparteien haben wir schon hinter uns“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eden-niedergang-der-volksparteien-haben-wir-schon-hinter-uns%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eden-niedergang-der-volksparteien-haben-wir-schon-hinter-uns%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eden-niedergang-der-volksparteien-haben-wir-schon-hinter-uns%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 17:47:42 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3274 20090924_wahlbeobachter_02

Foto: Jörn Neumann

HALLE. Internationale Wahlbeobachter reisen auf Einladung des DAAD durch Deutschland. Der Politikwissenschaftler Ton Nijhuis, wissenschaftlicher Leiter des Deutschland Institut Amsterdam (DIA) an der Universität von Amsterdam, ist einer von ihnen. Der Niedergang der großen Volksparteien ist ihm aus seiner Heimat schon bekannt – dort ist inzwischen die rechtspopulistische PVV die stärkste Partei. Mit der Wahlfahrt09 sprach er über Parallelen und Unterschiede zwischen den Niederlanden und Deutschland.

Sie haben die deutschen Spitzenpolitiker gesehen. Westerwelle, Künast oder Gysi – wer schreit am Lautesten?

Westerwelle hat mir gut gefallen. Nicht seine politische Programmatik, sondern seine Rhetorik. Da merkt man, dass die deutschen Politiker gegenüber den niederländischen sehr große rhetorische Vorsprünge haben.

Das ist ja nicht gerade das, was man Steinmeier und Merkel nachsagt…

Merkel und Steinmeier ähneln in dieser Hinsicht mehr den niederländischen Politikern. Der Wahlkampf zwischen diesen zweien, die Wahlkampfveranstaltungen und die Berichterstattung in der Presse – all das ist sehr langweilig. Da fühle ich mich zuhause, denn das ist in den Niederlanden genauso.

Sind die Deutschen also genauso langweilig wie die Niederländer?

Bei uns weiß man auch nie, wie es nach den Wahlen weitergeht. Alle koalieren mit allen, und im Wahlkampf versuchen die Parteien, alle politischen Streitigkeiten zu vermeiden. Sie sprechen die eigene Klientel an und polarisieren sonst nicht. Lagerwahlkampf wie früher in Deutschland gibt es nicht – aber hier auch nicht mehr. Es ist schon bemerkenswert, dass man eine Regierung hat und sowohl Kanzler als auch Vizekanzler sagen: Bitte nicht nochmal vier Jahre große Koalition. Da kann man schwer die Regierung abwählen.

Was ist für Sie neu in diesem Wahlkampf?

Deutschland nähert sich immer mehr der europäischen Realität an. Das Mehrparteiensystem, das Erodieren der Volksparteien, das ist in anderen Ländern schon sehr viel früher passiert. In den Niederlanden stellen die klassischen Volksparteien nur noch eine Minderheit. Was früher die politische Peripherie war, ist heute das Zentrum, und umgekehrt. In Deutschland sehe ich ähnliche Tendenzen.

Was könnten SPD und CDU vom niederländischen Beispiel lernen?

Leider haben wir bislang kein Erfolgsrezept. Bei uns ist die Lage sehr viel dramatischer: Die rechtspopulistische Partei „Groep Wilders“ ist inzwischen die stärkste Partei in den Niederlanden. Und die Partei hat wie viele Mitglieder? Ein einziges! Geert Wilders. Die sozialdemokratische PvdA, die mit der SPD vergleichbar ist, hat nur noch 15 Prozent; die christdemokratische CDA – also unsere CDU – kommt nur noch auf etwa 20 Prozent.

Was hat denn diese Entwicklung in den Niederlanden eingeläutet?

Die gleiche wie in Deutschland: Die klassischen Milieus, auf die sich die Parteien stützen, sind nicht mehr vorhanden. Man braucht da andere Strategien, um die Wähler zu binden. Die SPD hat Wähler verloren an die Linken und die Grünen, die CDR verliert ständig Mitglieder, hat sich aber von einer konfessionellen Partei zu einer Partei der Mitte um positionieren können. Der Unterschied ist, dass wir in den Niederlanden keine Fünfprozent-Hürde haben. Es gibt Parteien, die mit 0,7 Prozent ins Parlament einziehen. Es ist also sehr viel einfacher, eine Partei zu gründen.

In Deutschland hat sich die Piratenpartei gegründet, und wir beobachten viele Abspaltungen von jungen Parteimitgliedern, die selbst Parteien gründen oder direkt kandidieren.

Die haben aber keine Chance in Deutschland. In den Niederlanden haben wir im Parlament zwei Mandate der Tierpartei! Weil die anderen Parteien sich so sehr ähneln, macht es keinen Unterschied mehr, wer an der Macht ist. Und dann kann man mit einem einzelnen Thema ein Statement setzen, das einige Wähler überzeugt.

Wie verändert das den politischen Alltag, wenn man Einthemenparteien hat? Gibt es in diesen Parteien überhaupt genug Kompetenzen, um breite gesellschaftliche Themen wie Arbeit, Wirtschaft oder Gesundheit zu diskutieren?

Nein, aber das sind die anderen Parteien auch nicht. Generell ist es ein Luxus, dass man eine so stabile politische Kultur und soviel Konsens hat, dass man sich so etwas erlauben kann. Und wenn es uns wirklich um etwas Wichtiges ginge, dann hätten die Leute schon anders gewählt.

Das heißt, unsere Probleme sind noch nicht groß genug?

Das würde ich so nicht sagen. Ich möchte lieber über etwas sehr Positives in Deutschland sprechen: Die Mitte erodiert hier zwar und man hat mehr Parteien an den Rändern. Aber während andere Länder in Europa sehr große Wählerschaften an die rechte Seite des politischen Spektrums verlieren – in den Niederlanden sind das 25 %, in Belgien, Flandern und Frankreich gibt es dieses Phänomen auch – ist es der Bundesrepublik bis jetzt gelungen, dieser rechten Seite der Erosion keinen Raum zu lassen. Und im politischen Diskurs redet man viel verantwortlicher über heikle Themen als bei uns – so dass Rechts hier nicht salonfähig wird.

Gleichen sich Wahlkampf und Wahlwerbung in den Niederlanden und Deutschland? Was sind die augenfälligsten Unterschiede?

Die deutschen Parteien sind sehr viel professioneller, weil sie mit sehr viel mehr Geld ausgestattet sind, um den Wahlkampf zu organisieren. In Holland haben die Parteien fast kein Budget. Schaut man sich hier die Parteisitze von SPD und CDU an – das sind Riesengebäude mit wahnsinnig vielen Mitarbeitern. Dagegen gibt es bei uns nur kleine Vertretungen, da sind vielleicht fünf Mitarbeiter. In Deutschland gibt es laut Grundgesetz mehr Geld vom Staat.

Und gibt es auch Ähnlichkeiten?

Die Parteien in beiden Ländern haben ihren Charakter zu Staatsparteien verändert. Beide waren früher eine Brücke zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat. Wenn sich Parteien auf den Staat richten, das Geld von ihm bekommen und sich auf ihn positionieren, hat das zwei Konsequenzen: Sie werden immer mächtiger und die Wichtigkeit von Positionen und Ämtern nimmt gegenüber der repräsentativen Funktion ab. So verlieren die großen Parteien ihre Wurzeln in der Zivilgesellschaft – und das führt auch zu ihrer Krise.

Also muss man als Partei in der Opposition bleiben, um diesen Effekt zu verhindern?

Zumindest den Kontakt zur Bevölkerung wieder aufnehmen. Nehmen sie die Linke – das ist eine typische „Kümmerpartei“. Das gibt es so in Holland ebenfalls. Dazu gibt es eine weitere Reaktion in den Niederlanden: Anti-Establishment-Bewegungen jenseits des Parteiensystems wie den parteilosen Pim Fortuyn – oder Geert Wilders, der eine Partei hat, deren einziges Mitglied er selbst ist. Vor solchen Entwicklungen bietet das deutsche politische System gute Schutzmechanismen – etwa der Föderalismus, in dem so etwas zuerst auf Landesebene experimentiert werden muss und die Fünfprozentklausel.

Haben wir Deutschen ähnliche Probleme wie die Niederlande?

Es gibt die gleichen Strukturzwänge in allen Ländern wie Globalisierung und Finanzkrise, und keiner glaubt mehr, dass der Staat und die Politik noch in der Lage ist, diese Probleme zu lösen.
Wenn viele Leute antworten, dass sie nicht glauben, dass die Politik tatsächlich die Arbeitslosigkeit bekämpfen kann, wird das von den Wahlforschern als „Politikverdrossenheit“ interpretiert. Ich würde sagen, das ist Realismus erwachsener Bürger, die genau wissen, dass man viele Versprechungen aus dem Wahlkampf nicht einhalten kann.

Wenn tatsächlich so viele Bürger bereits wissen, dass Wahlkampf lediglich symbolische Funktionen, aber kaum reale Konsequenzen hat – wie sinnvoll ist Wahlkampf als politisches Instrument dann überhaupt noch?

Wir brauchen Regierung und Opposition, die sich abwechseln, das müssen wir organisieren, Parteien sind eine Möglichkeit. Der Wahlkampf ist ein symbolischer Moment, in dem man die Menschen mobilisiert und diesen Wechsel symbolisch möglich macht. Aber ich sehe das nicht als eine Entscheidung, die vier Jahre trägt. Statt dessen sind Wahlen eine punktuelle Momentaufnahme einer politischen Stimmung. Wenn das so ist, dann sollten wir zu einem System kommen, in dem man zwischendurch viel mehr Möglichkeiten hat, punktuell zu messen – oder andere Forme von direkter Demokratie zu entwickeln, die über die Parteien hinaus gehen. Schließlich sind sie Organisationsformen mit Strukturen aus dem 19. Jahrhundert. Die ganze Gesellschaft hat sich aber modernisiert.

Gibt es Themen, die ihrer Meinung nach in diesem Wahlkampf zu kurz kommen?

Dieser Wahlkampf ist eine nationale Nabelschau. Und das, obwohl wir eine internationale Finanz- und Wirtschaftskrise bewältigen müssen. Ob Politiker, Experten oder Journalisten – alle reden nur über die deutschen Maßnahmen, die deutsche Finanzlage, die deutsche Politik. Man muss sehr viel nachfragen, um überhaupt ein Ausland zu entdecken. Europa ist ein Wort, das ich noch niemanden freiwillig habe benutzen hören. Kleine Länder wie Irland oder Portugal können sich einen europaskeptischen Standpunkt leisten. Aber wenn Deutschland sich seiner europäischen Verantwortung entzieht, ist das gravierend: Denn Deutschland ist das Land, dass die EU doch zusammenhält, es hat eine andere Verantwortung.

Der Pole – “Der Europagedanke ist in Deutschland in der Krise”

Der Amerikaner – “Die Deutschen lieben Obama, aber hassen Amerika”

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„Niemand redet darüber, wie die Krise nach der Wahl bewältigt werden soll“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 14:33:53 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3455 Foto: Jörn NeumannFoto: Jörn Neumann

HALLE. Jay Rowell ist seit 2001 Forscher in Politische Soziologie an der Centre National de Recherche Scientifique (CNRS). Er leitet seit 2007 das Strassburger Forschungsinstitut Groupe de Sociologie Politique Européenne (www.gspe.eu) und ist seit 2006 stellvertretender Direktor vom Centre interdisciplinaire de recherches et d’études sur l’Allemagne. Seine Forschung und Lehrtätigkeit betrifft die Soziologie des Staates, Politisierung und Studien über die Sozialpolitik in Europa und in der EU.

Viele Deutsche finden den Wahlkampf langweilig. Sie auch?

Ja, jeder spielt ziemlich defensiv. Mich erstaunt es besonders, dass gerade die kleinen Parteien nicht in die Offensive gehen. Dabei könnten sie gegenüber der großen Koalition so gut punkten.

Sie haben Westerwelle, Künast und Gysi gesehen – sind die nicht laut?

Westerwelle ist natürlich am lautesten, den habe ich gestern in München gesehen. Er hat von Steuersenkungen gesprochen, war aber nicht überzeugend: Es gab keine konkreten Aussagen, was er in einer schwarz-gelben Koalition machen wird. Es wurden alle Themen angesprochen, Bildung, Wirtschaft, die klassischen Themen der FDP, aber gerade bei Wirtschaftsliberalismus hätte ich mehr erwartet. Der Diskurs bleibt im Allgemeinen und sehr abstrakt, man hätte auch mehr Beispiele nehmen müssen. Das fehlt bei eigentlich allen bis auf Gysi.

Wie erklären Sie sich die Friedlichkeit der Parteien?

Das hat zum Einen mit der Wirtschaftskrise zu tun, die in der Großen Koalition gemeinsam bekämpft wurde. So können weder SPD noch CDU heute sagen, sie würden alles anders machen.  Und zum Anderen hat es mit der politischen Kultur zu tun: Es geht sehr viel um Kompetenz und Sachlichkeit. Das hat man im Kanzlerduell gesehen, da blieb die Diskussion immer sehr sachlich, es fehlte an Emotionen, Bildern und Symbolen. Vielleicht wagt man wegen der deutschen Vergangenheit nicht, populistisch oder emotional zu punkten.

Es fehlen also die strittigen Themen.

Was mich sehr erstaunt ist, dass es in dieser Debatte gar nicht so sehr darum geht, was nach der Wahl kommt. Die Krise ist ja schon ein Jahr alt, und auch wenn es langsam wieder aufwärts geht, kommt erst Morgen die schmerzhafte Entscheidung, wie der Haushalt saniert werden soll, durch Kürzungen oder Steuererhöhungen. Es gibt offenbar einen Konsens, diese schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen. 2005 hat die CDU das gemacht und fast verloren. Hier müssten die Journalisten die Kandidaten herausfordern und nachfragen, wie etwa Steuersenkungen finanziert werden sollen. Westerwelle sagt, das würde die Wirtschaft ankurbeln und sich dadurch refinanzieren, aber weiß seit Reagan 1981, dass das nicht funktioniert. Aber auch die SPD sagt nicht, wie es weitergehen soll, die Grünen mogeln sich um das Thema herum, und Merkel ist ebenfalls in der Defensive und hat Angst, den Wahlsieg noch zu verspielen.

Ist dieser Konsens-Wahlkampf typisch deutsch?

In Deutschland herrscht Konsens: Die Krise ist von außerhalb gekommen, es gibt zwar strukturelle Probleme, aber keine Schuldzuweisungen, nur bei den Linken findet man das. In Frankreich gibt es Versuche, die Schuld für die Krise auf nationaler Ebene anderen zuzuschieben: Weil angeblich Sarkozy und seine Vorgänger Deregulationspolitik betrieben haben.

Würden Franzosen Merkel oder Steinmeier wählen?

Ganz bestimmt nicht! Wobei in Frankreich im Grunde genommen Wahlen wie in Deutschland gewonnen werden: Man verspricht viel, das man hinterher nicht einhalten kann. Nur populistischer. Diese Bescheidenheit der beiden Kandidaten, das wäre in Frankreich unmöglich. Ein aufgeblähtes Ego ist sogar beliebt. Man sucht jemanden, der entscheiden kann, der durchsetzungsfähig ist und viel verspricht, das hat damit zu tun, dass der französische Präsident viel allein entscheiden kann, in Deutschland müssen die Politiker zusammenarbeiten und konsensfähig sein. Das erzeugt dann verschiedene politische Kulturen.

Mit welchen Themen könnte Steinmeier noch punkten?

Ich würde auf die Ängste abzielen, dass die FDP oder Schwarz-Gelb den Sozialstaat abbauen oder Steuern nur für die obere Schicht senken wollen. Das Problem ist, dass die SPD mit Hartz IV Reformen gegen den kleinen Mann gemacht hat, das muss sie jetzt anders machen. Und Steinmeier hat das alles mit entschieden. Daran wird die SPD noch lange zu knabbern haben.

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Die Wahl im internationalen Blick http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-wahl-im-internationalen-blick http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/#comments Thu, 24 Sep 2009 11:17:15 +0000 Lu Yen Roloff, Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3384 GruppeWahlbeobachter bei GregorGysi

Foto: Jörn Neumann

HALLE. Wir von der Wahlfahrt09 sind nicht die einzigen, die im Vorfeld der Bundestagswahl durch das Land reisen. Von unserer vorletzten Station Magdeburg machten wir einen kleinen Abstecher nach Halle, um dort ein internationales Wahlbeobachterteam zu treffen, das im Auftrag des Deutschen Akademischen Auslanddienstes unterwegs ist: 18 Wissenschaftler aus 18 Ländern, Politologen und Historiker mit dem Spezialgebiet Deutschland. Sie sind in Halle, um dem Wahlkampfabschluss der Linkspartei beizuwohnen und Gregor Gysis Rede zu hören. In den Tagen zuvor hörten sie bereits Renate Künast und Guido Westerwelle, den Wahltag erleben sie in Berlin – und werten dann die Reise gemeinsam aus. Vorab gaben uns die Wissenschaftler aus der Türkei, den Niederlanden, Frankreich, Argentinien, Polen und den USA schon eine kurze Zwischenbilanz ihrer Beobachtungen vor ihrem jeweiligen Hintergrund.

]]> http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/feed/ 0 „Der Europagedanke ist in Deutschland in der Krise“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 10:23:35 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3378 RuchniewiczFoto: Jörn Neumann

HALLE. Krzysztof Ruchniewicz ist Professor für Zeitgeschichte am Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw und beschäftigt sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen und Fragen der Europäischen Integration. Er koordiniert auch das deutsch-polnische Schulbuchprojekt, das Frank Walter Steinmeier als Außenminister angestoßen hat.

„Ich spreche hier viel über die deutsch-polnische Nachbarschaft und unser Verhältnis. Die NPD macht in deutschen Städten an der polnischen Grenze einen stark polenfeindlichen Wahlkampf. Jede polnische Zeitung, jedes polnische Medium berichtet darüber. Die Empörung ist groß, dass die deutschen Gerichte entschieden haben, dass diese Plakate nicht abgehängt werden dürfen. Gleichzeitig wird in der polnischen Presse aber betont, dass es nicht nur eine polnische Gegenreaktion auf diese Plakate gibt, sondern auch auf der deutschen Seite Initiativen entstehen, die sich dagegen wenden. Das bemerkt selbst die nationalkonservative Presse. Es herrscht eine größere Sensibilität auf beiden Seiten vor, und das zeigt, dass das nachbarschaftliche Verhältnis besser geworden ist.

Komisch ist jedoch, dass die Deutschen im Wahlkampf das Thema Europa nicht ansprechen. Polen wurde von Deutschland beim Natobeitritt und beim EU-Beitritt sehr unterstützt. Nun scheint eine Krise eingetreten zu sein, weil man nicht weiß, wie es in Deutschland mit dem Europa-Gedanken weitergehen soll. Was bedeutet das für Deutschland, sind da alle europäischen Fragen erfüllt, oder gibt es neue Fragen, die uns in der Zukunft stärker beschäftigen? Zum Beispiel der Klimaschutz oder die Frage der Energie. Es wäre wichtig, dass man dieses Thema nicht auf das deutsch-russische Verhältnis reduziert, sondern als eine gemeinsame Frage für die Europapolitik begreift. Stellt Deutschland die europäische Perspektive jetzt zurück und handelt stärker bilateral? Eine Fülle von Fragen, die in diesem Wahlkampf nicht thematisiert werden.

Mir fällt auch auf, dass sehr viele Menschen unzufrieden sind, sie bezeichnen etwa Zeitarbeit als verdeckte Arbeitslosigkeit, sprechen über HartzIV. Diese Themen irritieren die Leute. Manche kritisieren den Verfall der Werte, die Diskrepanz zwischen dem, was Politiker sagen und dem, was sie tun. Das hört man, wenn man am Biertisch sitzt und ein bißchen plaudert. Eine Partei wie die Linke, die sich um solche Themen kümmert, hätte in Polen aber keine Chance. Das hängt mit unserer Geschichte des Postkommunismus zusammen, man hat gelernt, kritisch auf die kommunistische Vergangenheit zu sehen, und da kann man nicht die Augen vor verschließen. Die Linke hatte bei uns in den letzten Jahren keinen großen Zulauf.

Wir Polen beneiden dieDeutschen um ihr Sozialsystem, angefangen von der ärztlichen Versorgung bis hin zur Arbeitslosenversorgung. Das haben wir noch nicht erreicht.“

Der Amerikaner – “Die Deutschen lieben Obama, aber hassen Amerika”

Der Holländer – “Den Niedergang der Volksparteien haben wir schon hinter uns”

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Alter, ey! http://www.wahlfahrt09.de/menschen/alte-anspruche/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=alte-anspruche http://www.wahlfahrt09.de/menschen/alte-anspruche/#comments Wed, 23 Sep 2009 13:57:46 +0000 Daniel Stender http://www.wahlfahrt09.de/?p=3155 Horst Gilles von der Rentnerinnen und Rentner Partei

Foto: Jörn Neumann

WENDLAND. Neun Mitglieder hat die “Rentnerinnen und Rentner Partei” (RRP) in Lüchow. Kennt keiner? Macht nichts, Direktkandidat Horst Gilles kämpft trotzdem auf dem Marktplatz um jede Stimme.

Seine Partei, sagt der ehemalige Bankkaufmann Horst Gilles, habe einen großen Vorteil gegenüber allen anderen, die zur Bundestagswahl antreten. „Wir von der RRP sind ja schon rein vom Biologischen her nicht mehr korrumpierbar“, sagt Gilles und meint damit, dass er und die rund 3000 Mitglieder der Rentnerinnen und Rentner Partei schlichtweg zu alt sind, um wegen der hohen Diäten in die Politik zu gehen. Gilles, der Direktkandidat im Landkreis Lüneburg, macht gerne mal einen Scherz über das eigene Alter. Mit seinen 66 Jahren, sagt er zum Beispiel, hat er ja schon eine Rente – an einer weiteren Pension, etwa im Bundestag, sei er da nicht mehr interessiert.

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Foto: Christian Salewski

Gemeinsam mit Bernd Wald, dem stellvertretenden Kreisvorstand, macht Gilles Wahlkampf in der Innenstadt von Lüchow. Keine leichte Aufgabe, hat die RRP in Lüchow doch nur neun Mitglieder. „Hier müssen wir noch aufbauen“, sagt Gilles – aber seine Partei gibt es erst seit knapp zwei Jahren und in Lüneburg hat sie schon 110 Mitglieder. Hier hält er es für realistisch, dass die RRP ca. 5 Prozent der Stimmen erreicht. Rein vom Potential her, da ist sich Gilles sicher, ist fast alles möglich.

20 Millionen Rentner gibt es in Deutschland – und die wenigsten sind zufrieden. In den vergangenen Wochen kamen in vielen Städten Rentner an den Wagen der Wahlfahrt, und klagten über geringe Einkünfte. Laut Deutscher Rentenversicherung bekamen 2007 über 40% der deutschen Rentner weniger als 600 Euro im Monat.

Den Unmut der Senioren bedient die RRP: „Rentner – die Milchkühe der Nation“, heißt es auf der Internetseite. Neben einer garantierten Mindestrente von 1000 Euro im Monat geht es ihnen noch um Gesundheit und Bildung. Konkret heißt das: weniger Krankenkassen und kostenlose Kitas, Schulen und Universitäten. „Aber nur für die Leute, die in der Regelstudienzeit fertig werden“, sagt Bernd Wald. Andere Politikbereiche kommen im Programm nicht vor.

Eine reine Altenpartei will die RRP allerdings nicht sein: Schließlich ist das jüngste Mitglied erst 16 Jahre alt, „16 Jahre und zwei Monate“, präzisiert Gilles, der sichtlich stolz darauf ist, dass auch ein Teenager bei den Senioren mitmacht. „Weil er sich um seine Rente sorgt, ist der Junge dabei“, sagt Bernd Wald. „Außerdem hat er eine Eins im Fach Politik. Und bei uns hat er auch die besten Aufstiegschancen.“ Rein vom Biologischen her, natürlich.

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Wahlkrieg statt Schlafwagen http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wahlkrieg-statt-schlafwagen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wahlkrieg-statt-schlafwagen http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wahlkrieg-statt-schlafwagen/#comments Thu, 17 Sep 2009 17:58:00 +0000 M. Lenz, C. Salewski http://www.wahlfahrt09.de/?p=2885 Breitenfelde_Wahlkrieg-1

Foto: Milos Djuric

BREITENFELDE. Während sich Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier umarmen, machen Peter Harry Carstensen und Ralf Stegner in Schleswig-Holstein vor, was ein echter Wahlkampf ist. Die Gräben zwischen den großen Parteien sind tief. Das spüren auch die Wähler.

Der Ort, an dem die Suche nach dem Kampf im Superwahljahr 2009 beginnen muss, ist das kleine Städtchen Mölln im Herzogtum Lauenburg. Auf dem neueren Teil des Möllner Friedhofs liegt Uwe Barschel begraben. Nadelbäume spenden Schatten, rote Begonien erheben sich aus den Bodendeckern, ein Rhododendron wölbt sich über einen schlichten Feldfindling, dem Grabstein des ehemaligen Ministerpräsidenten Schleswig-Holsteins. Es ist eine unauffällige und nüchterne Ruhestätte für den Politiker, der im Zentrum eines der größten politischen Skandale der Nachkriegsgeschichte stand. Der Name Barschel ist zu einem Symbol geworden für Politik in ihrer archaischen Form. Und im hohen Norden gilt noch immer: Hier wird hart um die Macht gekämpft und dabei sind fast alle Mittel recht.

Zuletzt stellte das der amtierende Ministerpräsident Peter Harry Carstensen unter Beweis, als er die SPD-Minister aus seinem Kabinett warf und per fingierter Vertrauensfrage vorgezogene Neuwahlen erzwang. Am 27. September wird nicht nur der Bundestag, sondern auch der Kieler Landtag neu gewählt. Doppelter Wahlkampf also zwischen Nord- und Ostsee. Dabei ist der Schleswig-Holsteinische Landtagswahlkampf der Gegenentwurf zum beschaulichen Bundestagswahlkampf aus dem Schlafwagen. Wenn das, was im Bund abläuft, Wahlkampf sein soll, dann herrscht im Norden Wahlkrieg.

Das Casino Royal in Elmshorn. Ein langgestreckter Saal getaucht in schummriges Licht. Tischreihen auf abgewetztem grünen Teppich. Etwa 1000 Menschen wollen den neuen Star der Union, Theodor zu Guttenberg sehen, den Carstensen sich als Verstärkung geholt hat. Die Luft ist muffig und biergeschwängert. Es ist die perfekte Atmosphäre für einen deftigen Wahlkampfauftritt. Carstensen weiß das zu nutzen: „Ich sag immer: in der Politik braucht man Augen und Ohren“, ruft er in den Saal. Und in Richtung seines Gegenspielers Ralf Stegner (SPD): „Manchmal ist das besser, wenn man sich von einem trennt.“ Einfache Sätze, gemünzt auf den politischen Gegner. Dann kommt zu Guttenberg und hält eine staatstragende Einführung in die politische Ökonomie der Krise. Er wirft mit Begriffen wie Tobin-Steuer oder Due-Dilligence-Prüfung um sich, ohne sie zu erklären. Dann sagt er: „Ich habe mir vorgenommen, in diesem Wahlkampf nicht einen Namen zu nennen, höchstens im Positiven.“ Was daran noch Wahlkampf ist, erklärt er nicht. Carstensen bleibt der Ausflug ins volkswirtschaftliche Proseminar erspart. Er ist da schon lange weg, unterwegs zu einem Volksfest bei Kiel.

„Ich feiere nach der Arbeit und nicht statt der Arbeit“, sagte kürzlich Ralf Stegner und warf Carstensen vor, zu viel mit dem Volk zu feiern. Im Land gilt Carstensen als trinkfester „König der Volksfeste“. Der konterte in Richtung SPD: “Wenn die Selters kriegen, singen die Trinklieder.” Es war eine weitere Spitze in der persönlichen Auseinandersetzung der beiden Spitzenkandidaten. Während Merkel und Steinmeier kein schlechtes Wort übereinander verlieren, pöbeln sich Carstensen und Stegner regelrecht an.

Der SPD-Linke Stegner gilt bei der CDU als „Kotzbrocken“ und „Roter Rambo“. „Mit der SPD konnte man zusammenarbeiten, mit Herrn Stegner nicht“, sagt Carstensen über seinen Kontrahenten. „Er war das Problem der Großen Koalition.“ Bei der SPD wiederum gilt der Ministerpräsident als “Dorfdepp”. Und als Lügner, seit er sagte die SPD hätte die umstrittenen Bonuszahlungen in Höhe von 2,9 Millionen Euro an den HSH-Nordbank-Chef Dirk Jens Nonnenmacher stoppen können. Wo Stegner kann, zeichnet er von der CDU ein verächtliches Bild. „Stockkonservativ“ und „rückwärtsgewandt“ sei die Partei des Landwirtssohnes Carstensen. Solch feurige Attacken gibt es im Bund nicht.

Der Markt in der historischen Mitte der Hansestadt Lübeck. Etwa 1000 meist ältere Menschen stemmen sich gegen den frischen Wind. Rote Fahnen flattern. Ein paar Jubel-Jusos recken Pappschilder mit dem Schriftzug „Frank Walter Steinmeier“ in die Höhe. Franz Müntefering ist gekommen. Er hält seine Standard-Wahlkampfrede. Viel Geschichte der Sozialdemokratie, wenig Konfrontation. Zum Schluss sagt er: „Die Frage ist, ob man mit Mundwinkel runter die Leute überzeugen kann.“ Hinter ihm steht Ralf Stegner mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

Stegner hatte zuvor noch erklärt: Dass er oft so finster gucke, liege daran, dass er so konzentriert zuhöre. Der SPD-Mann, dem ein nicht allzu sympathischer Ruf voraus eilt, hat immerhin die wenig volkstümliche Fliege abgelegt, und stillt jetzt mit offenem Kragen die Erwartungen an den wüsten Wahlkampf im Norden: In seiner Rede greift der 49-jährige immer wieder Carstensen an. Auch der Volksfest-Vorwurf ist einmal mehr dabei. Und zu dessen Koalitionsversprechen sagt er: „Schwarzgelb sind Wespen. Der Sommer ist vorbei, die Zeit der Wespen auch.“

Wer die völlig unterschiedlichen Schauspiele auf Bundes- und Landesbühne verstehen will, fragt am Besten die Zuschauer. Konstantin von Notz ist der schleswig-holsteinische Spitzenkandidat der Grünen für den Bundestag. “Wenn ich Steinmeier und Merkel angucke, dann ist da kaum noch etwas kontrovers. Die haben sich in der Symbiose eingerichtet“, sagt er. Die Großen seien doch im Schlafwagen  unterwegs. Das Bild passt gut, denn der 37-Jährige Jurist besucht mit seinem Parteifreund Andreas Tietze gerade den Erlebnisbahnhof Schmilau bei Mölln. Tietze ist Listenkandidat für den Landtag. Die Fernseh-Debatte zwischen Merkel und Steinmeier sei unfassbar langweilig gewesen. Im Land sähe das anders aus:  „Ein TV-Duell zwischen Carstensen und Stegner, das wäre so etwas wie Ehen vor Gericht“, sagt der 47-Jährige und schiebt nach: „Die kochen doch innerlich.“ Von Notz erklärt: “Die Gräben in Schleswig-Holstein zwischen CDU und SPD sind auch historisch bedingt. Da gibt es schon tiefe Klüfte.” Es ist klar, was er damit meint.

Die Barschel-Affäre war so etwas wie die Urkatastrophe der schleswig-holsteinischen Politik. Seitdem ist das Verhältnis zwischen den großen Parteien vergiftet. Die Klüfte, die von Notz nennt, verlaufen zwischen CDU und SPD, und prägen die politische Kultur des Landes. Auf Barschel folgte der Rücktritt von Björn Engholm. Später schoss der noch immer unbekannte „Heide-Mörder“ die Ministerpräsidentin Simonis ab. In diese Geschichte fügt sich der jüngste Bruch der Großen Koalition nahtlos ein. Und bei ihrer Wahlschlacht wollen Stegner und Carstensen mit dieser Tradition erst Recht nicht brechen.

Auch in Mölln, dem Ort, in dem Uwe Barschel begraben liegt, findet der Wahlkampf ohne Samthandschuhe statt. „Bei uns wird auf der Sachebene heftig gestritten“, sagt Monika Brieger, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Kreistag des Herzogtums Lauenburg. „Wir führen einen sehr aktiven Wahlkampf“, sagt die 50-jährige Krankenschwester. „Kuscheln werden Sie bei uns nicht finden.“

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