Wahlfahrt09 » Sozialismus http://www.wahlfahrt09.de Mon, 03 May 2010 15:28:35 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.2.1 “Die Linke hat auch im Westen eine Zukunft” http://www.wahlfahrt09.de/menschen/die-linke-hat-auch-im-westen-eine-zukunft/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-linke-hat-auch-im-westen-eine-zukunft http://www.wahlfahrt09.de/menschen/die-linke-hat-auch-im-westen-eine-zukunft/#comments Fri, 21 Aug 2009 08:59:55 +0000 Thomas Trappe http://www.wahlfahrt09.de/?p=1370 Hof_Thomas_Etzel_300_2

Foto: Thomas Trappe


HOF. Thomas Etzel sitzt in Hof seit 2008 im Stadtrat, als erster Vertreter der Linken überhaupt. Die Linken-Zugehörigkeit wäre im Osten Deutschlands keine Besonderheit, in Bayern allerdings schon. Das bewies Etzels Stadtratskollege Stefan Cruz seinerzeit eindrucksvoll. Er trat 2008 ebenfalls auf der Linken-Liste an, distanzierte sich aber kurz vor der Wahl von der Partei – und gewann mit der Aktion ein Mandat. Etzel selbst ist zwar parteilos, versteht sich aber als “loyaler Sprecher” der Partei und bezeichnet sich als “Sozialist”. Eine harte Nummer im konservativen Oberfranken.

“Ich war bis 1998 SPD-Mitglied, konnte mich mit dann aber nicht mehr mit der sozialdemokratischen Politik identifizieren. Als ich mich dann 2007 bereit erklärte, für die Linke in Hof anzutreten, gab es vor allem von SPD-Seite negative Kommentare. Im Wahlkampf kam dann immer wieder der Vorwurf, ich stünde als Linken-Vertreter für Stalinismus und eine Art DDR-Politik. Das kommt auch heute immer mal wieder durch.

Wenn ich mich an den Wahlkampf erinnere, erinnere ich mich an viel Zuspruch, aber eben auch an viele aggressive Kommentare. Es waren auch viele Menschen aus den Neuen Bundesländern, die uns da angefeindet haben, manche fragten, ob wir uns nicht schämten?

Dass ich im Stadtrat als Linker ausgegrenzt werde, kann ich nicht sagen. Dafür bin ich als Gewerkschaftssekretär zu gut eingebunden in der Stadt. Ich habe oft das Gefühl, dass viele SPD-Räte denken, was ich in den Sitzungen sage, es aber selbst wegen der Parteidisziplin für sich behalten müssen. Ob die Linke in Hof aber schon als ganz normale Partei akzeptiert wird, das kann ich noch nicht richtig abschätzen. Als damals die WASG gegründet wurde, konnten das die meisten Sozialdemokraten in Hof akzeptieren, das Zusammengehen mit der PDS ging dann aber Vielen zu weit.

Ich glaube, dass die Linke nicht nur im Osten, sondern auch im Westen der Republik eine Zukunft hat. Wichtig ist, dass sie sich klar links der SPD positioniert. Gefährlich wird es nur, wenn sie sich vermeintlichen Sachzwängen unterwirft. Die Partei muss sich immer fragen, ob sie Kompromisse eingehen will – und zu wessen Lasten.”

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Herz aus Stahl http://www.wahlfahrt09.de/orte/eisenhuttenstadt-eko-stahlwerk/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=eisenhuttenstadt-eko-stahlwerk http://www.wahlfahrt09.de/orte/eisenhuttenstadt-eko-stahlwerk/#comments Wed, 19 Aug 2009 10:44:18 +0000 JC Kage http://www.wahlfahrt09.de/?p=775

Von JC Kage und Ulrike Steinbach

EISENHÜTTENSTADT. Manfred Groß hat sein gesamtes Berufsleben im ehemaligen EKO-Stahlwerk in Eisenhüttenstadt verbracht. Mit den Wahlfahrt09-VJs spricht er über die Vergangenheit und den Wandel des Werks.

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“Eisenhüttenstadt ist ein Menschenversuch gewesen” http://www.wahlfahrt09.de/orte/eisenhuttenstadt-ist-ein-menschenversuch-gewesen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=eisenhuttenstadt-ist-ein-menschenversuch-gewesen http://www.wahlfahrt09.de/orte/eisenhuttenstadt-ist-ein-menschenversuch-gewesen/#comments Sat, 15 Aug 2009 15:31:57 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=336 Ben

Foto: Michael Bennett

EISENHÜTTENSTADT. Ben ist Stadtsoziologe und Blogger. Der 33jährige Doktorand schreibt einen „Weblog für alternative Stadtwahrnehmung“ über Eisenhüttenstadt. Er ist in Eisenhüttenstadt aufgewachsen, lebt heute in Berlin und besucht regelmäßig seine hier lebende Mutter. Sein Interesse liegt in der Eisenhüttener Geschichte und Stadtkultur.

Was fasziniert Dich an Eisenhüttenstadt?

Ich habe bis Ende der 1990er hier gelebt. Diese Zeit war nicht geprägt von Identifikation mit der Stadt, das kam erst, nachdem ich weg war. Aus stadtsoziologischer Perspektive ist Eisenhüttenstadt schon aussergewöhnlich. Als erste sozialistische Planstadt sollte sie den Sozialismus repräsentieren. Am Anfang hat man hier funktional gebaut, schnell und billig. Dann kam die DDR-Führung her und sagte, unsere Arbeiter dürfen so nicht wohnen, das liefert dem Klassenfeind Munition, wir müssen Paläste für Arbeiter schaffen! Und dann hat man relativ ambitioniert Wohnkomplexe gestaltet, mit einer aufs Kollektiv ausgerichteten Freiraumgestaltung: Die Hausgemeinschaft als Einheit, die gemeinsam die Vorgärten pflegte, die Autos am Stadtrand in großen Garagenkomplexen abstellte und sich im Inneren der Stadt zu Fuß bewegte. Man kann heute durch die ganze Stadt gehen, ohne mit Autos in Berührung zu kommen, das findet sich in dieser Form nirgendwo sonst in anderen Städten.

Was ist Eisenhüttenstadt für eine Stadt?

Eisenhüttenstadt ist ein Labor, ein prima Menschenversuch gewesen. So wie alle Planstädte, man legt eine Struktur an, versucht sie möglichst kontrollierbar zu halten und schiebt die Leute rein und schaut, was passiert. Man muss aber den Zeitrahmen sehen, das waren die 1950er und 60er Jahre, wo man den Weltraum erobert hat. Man findet Anlehnungen an dieses utopistische Ideal auch im Stadtraum, man wollte das Ideal eines besseren Lebens verwirklichen. Heute ist Eisenhüttenstadt eine real gewordene Utopie und hat eben deswegen das Utopische bereits wieder verloren.

Du sprichst viel mit Eisenhüttenstädtern über die Stadt und ihre Geschichte. Was sagen die Leute?

Es gibt ein starkes Heimatgefühl von vielen hier. Viel davon ist meiner Meinung nach aber Jugendnostalgie. Weniger aufgrund der Utopie, sondern weil die Menschen, die diese Stadt aufgebaut haben, damals sehr jung waren, viele erst Anfang 20. Das hat man ja in kaum in einer anderen Stadt, dass die Bewohner die Stadt selbst aufgebaut haben. Und so wie sie älter werden, altert die Stadt auch. Aber das ist auch in den anderen Planstädten Hoyerswerda und Schwedt so.

Welche Probleme hat Eisenhüttenstadt heute?

Städtebaulich vollzieht sich hier eine sehr schwierige Transformation. Wie überall in Ostdeutschland wird sehr viel abgerissen. Durch den Abriss entstehen Freiflächen in der Stadt, für die es kaum erkennbare Nachnutzungskonzepte gibt. Der Stadtraum bricht etwas auseinander. Stadt ist ja Verdichtung und wenn die Stadt entdichtet wird, muss man Übergänge schaffen.

Wie schätzt du die Stadt als politischen Raum ein?

Die politische Situation ist hier schwierig, weil die sozialistische Prägung überall drin steckt. Für viele Leute ist der Mustersozialismus prägend gewesen – und damit sind auch Bürgerengagement und Zivilgesellschaft unterrepräsentiert. Diese Montagsdemo (zeigt auf die Montagsdemo, sh. Slideshow) dort drüben entspringt eher dm Trotz, dem neuen System eins auszuwischen, als sich im jetzigen System politisch einzubringen. Während es im Rest der DDR auch Bürgerinitiativen, etwa im Umweltbereich gab, findet man hier diese Tradition nicht. Die Planer wollten hier eine Art Kuschelatmosphäre erzeugen und haben dies auch geschafft. Die Versorgungslage war besser als an anderen Orten. Und so ist Eisenhüttenstadt einer von zwei Orten, in denen die PDS 1990 noch die stärkste Partei war. Dadurch, dass die Jugend geschlossen abwandert, gibt es auch wenig Gelegenheiten, dass sich hier eine neue politische Generation herausbildet. Der Bürgermeister ist ja auch seit 19 Jahren im Amt und wird wahrscheinlich wieder bestätigt. Auch hier ist Kontinuität dadurch gewährleistet, dass es keine Konkurrenz gibt.

Sind die Eisenhüttenstädter politisch?

Ich glaube, dass ein großer Teil der Bevölkerung eher apolitisch durch sein Leben geht. Es gibt natürlich diese Stammtischpolitik wie überall. Sehr typisch ist hier eine Kultur in den Kleingärten, wo bis heute viele Leute ihre Sommerhäuser haben. Im Sozialismus schufen sich die Menschen hier ein bisschen Privatsphäre. Und diese Tradition lebt weiter. Wer seinen Garten hat, ist bis heute eher apolitisch. Die Konsequenz, dass man sich selbst einbringt, schätze ich gering ein.

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Auf ein Bier mit… David Ritter von den Jusos Görlitz http://www.wahlfahrt09.de/menschen/auf-ein-bier-mit-david-ritter-juso-gorlitz/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=auf-ein-bier-mit-david-ritter-juso-gorlitz http://www.wahlfahrt09.de/menschen/auf-ein-bier-mit-david-ritter-juso-gorlitz/#comments Fri, 14 Aug 2009 10:34:50 +0000 JC Kage http://www.wahlfahrt09.de/?p=771 GÖRLITZ. Er sei noch ein DDR-Kind, sagt der 20-jährige David Ritter, der 1988 in Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands, geboren wurde. Der gelernte Rechtsanwalt-Fachangestelle ist seit vier Monate auf der Suche nach Arbeit.Die freie Zeit nutzt er dafür, die SPD im Wahlfkampf zu unterstützen. Seit 2006 engagiert sich Ritter bei den Jusos, 2007 ist er der SPD beigetreten, die in der 58.000 Einwohner-Stadt auf gerade einmal 9 Prozent kommt.

Den Wahlfahrt-Reportern Christian Kage und Ulrike Linzer erzählt er in seinem Lieblingslokal an der Neiße – mit Blick auf die Görlitzer Altstadt und die wenige Meter entfernte polnische Stadt Zgorzelec – was die Stärken der SPD sind und was er tun würde, wenn er Bundeskanzler wäre.

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Politikfreie Zone an der Eisenhütte http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/politikfreie-zone-an-der-eisenhutte/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=politikfreie-zone-an-der-eisenhutte http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/politikfreie-zone-an-der-eisenhutte/#comments Thu, 13 Aug 2009 08:19:09 +0000 Kathleen Fietz http://www.wahlfahrt09.de/?p=243 Erschienen auf Spiegel Online am 13. August 2009

BLICK AUFS WERK ÜBER LINDENALLEE

Foto: Michael Bennett

EISENHÜTTENSTADT. Sechs Wochen bis zur Bundestagswahl, doch in der ehemaligen sozialistischen Vorzeigestadt ist davon nichts zu spüren. Politik bewegt hier kaum noch jemanden. Resigniert beobachten die Eisenhüttenstädter, wie ihre Stadt auf Kurzarbeit gesetzt wird – und systematisch schrumpft.

“Eisenhüttenstadt ist ein Labor, ein Menschenversuch gewesen”, sagt Ben Kaden und macht von oben ein Foto vom Rathaus, einem riesigen Komplex, das an faschistische italienische Baukunst erinnert. Vom Dach eines ehemaligen Kaufhauses, vier Stockwerke über der Stadt, hat man den besten Überblick.

Die erste sozialistische DDR-Planstadt ist inzwischen wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand des 33-jährigen Stadtsoziologen in Cordhose und blauen Humboldt-Uni-Shirt. Er lebt zur Zeit in Berlin, kehrt aber immer wieder in die Stadt zurück, in der er aufgewachsen ist, und schreibt in seinem Stadtblog über die Geschichte und die neuesten soziologischen Entwicklungen seiner alten Heimat.

Direkt vor dem Ex-Kaufhaus verläuft die Lindenallee, die das Rathaus mit dem eigentlichen Herzen der Stadt verbindet: dem Stahlwerk, das bis heute für alle wie in DDR-Zeiten nur EKO für Eisenhüttenkombinat Ost heißt. An den Straßenlaternen der Allee sind sieben Wochen vor der Bundestagswahl kaum Wahlplakate zu sehen.

Ben Kaden schreibt in seinem Blog: “Demnächst geht es wieder um die Wurst namens Bundestag und die Butter der Wählerstimmen und -stimmungen, die sich die Partei gegenseitig vom Brot nehmen wollen. Dies allerdings, so der Eindruck, nicht unbedingt in Eisenhüttenstadt, das als weitgehend wahlkampffreie Zone die müßige Sommerlaune zwischen Kiesgrube und Kleingartenarbeit genießt.”

Für den gebürtigen Eisenhüttenstädter ist die in der Modellstadt besonders intensive sozialistische Prägung dafür verantwortlich, dass sich kaum jemand politisch engagiert. Vor allem die Alten hier haben die Stadt um das Hüttenwerk mit aufgebaut. Standen hinter ihrer Vorzeigestadt für die Arbeiterklasse, in der die Idee eines besseren Lebens verwirklicht werden sollte.

Die Träume von damals sind in der Wand der Rathausvorhalle verewigt. “Unser neues Leben” heißt das große Natursteinmosaik des DDR-Staatskünstlers Walter Womacka. Es zeigt in DDR-Agitations-Manier den Weg von Steine klopfenden Trümmerfrauen über hämmernde Männer, die das Stahlwerk aufbauen, bis hin zum Paradies: Dort sieht man lachende Frauen mit spielenden Kindern. “Man wollte das Ideal eines besseren Lebens verwirklichen. Aber die Wirklichkeit hielt dem Anspruch nicht stand. Als die Arbeiterstadt gebaut war, hat sie das Utopistische verloren” sagt Kaden und deutet auf die vielen Friedenstauben im Mosaik. Neben den glücklichen Frauen und Kindern sind im sozialistischen Garten Eden keine Männer zu sehen.

“So viele Schichten, wie wir geschoben haben”

Dafür aber im gegenüberliegenden Imbiss “Automat”. Zwei von ihnen sitzen unter einem Sonnenschirm, einer vorm Bier, der andere vor einem Kaffee, und gucken den Autos auf der Straße der Republik hinterher. Was bewegt die Stadt gerade am meisten? “Die Kurzarbeit in der EKO und dass so viele von hier abgehauen sind und nun ganze Wohnkomplexe abgerissen werden”, erzählt einer der beiden. Sein weißes Hemd, die Goldkette und die Frisur – oben kurz, hinten lang – erinnert an die 80er Jahre. Lokbauer sei er früher bei der EKO gewesen, doch als er seinen Job verlor und ihn seine Frau verließ, habe er sich mit dem Alkohol verbrüdert. “Aber ich hab’ mich da wieder rausgezogen, arbeite jetzt als Fahrer bei der Stadt”, sagt er und wird unterbrochen von dem anderen Gast. “Was erzählt du denn für’n Scheiß, was redest du überhaupt mit denen”, schreit der plötzlich vor seinem Bier. “Ich will erzählen, dass wir was geleistet haben hier in der Stadt. Ich auf der Lok und du doch auch. So viele Schichten, wie wir geschoben haben.”

Von den 13.000 Arbeitern von damals arbeiten heute nur noch knapp 3000 im Stahlwerk, das inzwischen nach dem internationalen Mutterkonzern “ArcelorMittal” umbenannt wurde. Viele von denen, die in den Nachwendejahren ihre Arbeit verloren haben, hatten nicht so ein Glück wie der ehemalige Lokbauer – und sind schon mittags in den Imbissen der Stadt anzutreffen.

IMBISS AUTOMAT IN DER STRAßE DER REPUBLIK

Foto: Michael Bennett

Der Blogger Kaden fährt mit seinem Auto vorbei an den ersten Wohnkomplexen, die in den fünfziger und sechziger Jahren rund um das Hüttenwerk gebaut wurden. Die sand- und rosafarbenen klassizistischen Prachtbauten im sogenannten stalinistischen Zuckerbäckerstil bilden heute das größte deutsche Flächendenkmal. Ein krasser Gegensatz zu den später hochgezogenen Plattenbaukomplexen, die ein Stück weiter entfernt vom Stadtkern entfernt liegen.

Kaden legt eine DDR-Aufnahme eines Kinderhörspiel von Paul Hindemith ein. “Wir bauen eine neue Stadt, die soll die allerschönste sein”, singt der Kinderchor, während der Wagen durch die halb untergegangenen Stadtteile fährt, in deren Häusern oft nur noch ein paar Wohnungen bewohnt sind. Zwischendrin immer wieder Brachland, wo bereits Ende der Neunziger Häuser abgerissen wurde; längst ist dort schon wieder Gras über die leeren Flächen gewachsen.

“Zu DDR-Zeiten wollten alle nach Eisenhüttenstadt wegen der Neubauten”, erzählt eine Eisenhüttenstädterin, die mit Lockenwicklern im “Hier Hair” sitzt. Wie eine letzte Bastion wirkt der Friseursalon mit seinem grellgelben Ladenschild im Erdgeschoss des grau- und altrosafarbenen Plattenbaus, in dem kaum noch Gardinen an den Fenstern hängen. In spätestens zwei Jahren soll auch dieser Komplex abgerissen werden, die Stadt kann sich den Leerstand nicht leisten. 1988 haben hier 53.000 Menschen gelebt, heute sind es rund 20.000 weniger. “Wenn ich hier weg muss, kann ich dichtmachen. Meine ganze Kundschaft wohnt hier, und meine Mädels verlieren ihre Arbeit, wir müssen doch auch ein paar Junge in der Stadt halten”, sagt die Besitzerin Monika Langkabel.

“Der Werner ist seit 19 Jahren im Amt”

Zwei Friseurinnen hat sie ausgebildet, in drei Jahren will sie aufhören, und die beiden sollen den Salon übernehmen. Fragt man die Friseurmeisterin nach den bevorstehenden Wahlen, ist das 130 Kilometer entfernte Berlin weit, denn am selben Tag ist in der Stadt Bürgermeisterwahl. “Der Werner ist seit 19 Jahren im Amt, der bleibt bestimmt auch”, sagt sie. Vor ein paar Tagen hatte sie einen Termin bei dem SPD-Mann, nach den Linken bilden die Sozialdemokraten die zweitstärkste Fraktion im Stadtrat. Über den geplanten Abriss ihres Salons hat sie mit ihm gesprochen. Nett sei er gewesen, versprochen habe er nichts.

“Man muss die Bevölkerung mehr einbeziehen”, schimpft sie. In Schwedt, einer anderen ehemaligen DDR-Planstadt, in der sie früher auch ein paar Jahre gelebt hat, hat man die Plattenbauten nicht einfach abgerissen, sondern die oberen Stockwerke abgetragen und so die zusammengewachsenen Hausgemeinschaften erhalten. “Na man muss Optimist bleiben in dieser Stadt”, sagt die Friseurin, während sie ihrer Kundin die aufgerollten Haare mit einer nach Ammoniak riechenden Lösung betupft.

PÄRCHEN

Foto: Michael Bennett

Ben Kaden fährt zurück in die Lindenallee, wo sich auf dem Theatervorplatz zehn Eisenhüttenstädter zu einer Montagsdemo treffen. Eine Mittfünfzigerin mit rot gefärbten Haaren singt über Lautsprecher: “Wenn Münte sagt, die Rente steigt jetzt gut/dann fühl ich wie jetzt kocht in mir das Blut/nicht mal ein Prozent ist wie ‘n Schlag ins Gesicht/Münte merk dir gut, Rentner verarscht man nicht!” Seit genau fünf Jahren stehen sie jeden Montag hier und träumen von einer sozialeren Welt.

“Die Demo entspringt eher dem Trotz, den Regierenden eins auszuwischen, als sich im jetzigen System politisch einzubringen”, sagt Ben Kaden.

Am Ende der Allee legt sich die Abenddämmerung über die Hochöfen.



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Eine Aktentasche voll Geschichte http://www.wahlfahrt09.de/menschen/eine-aktentasche-voll-geschichte/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=eine-aktentasche-voll-geschichte http://www.wahlfahrt09.de/menschen/eine-aktentasche-voll-geschichte/#comments Tue, 11 Aug 2009 15:30:15 +0000 JC Kage http://www.wahlfahrt09.de/?p=425

Herr Julich

Foto: Michael Bennett

Von Christian Kage und Lu Yen Roloff

EISENHÜTTENSTADT. Harry Julich kam zum Wahlfahrt09-Stand, um uns seine Geschichte zu erzählen. Er ließ sich mit Christian Kage zum Bier im benachbarten Hähncheneck nieder und holte Lu Yen Roloff am nächsten Tag zu einer Stadtführung in seinem Auto ab.

Ein ellenlanger Bombensplitter und hunderte Seiten Dokumente füllen Harry Julichs hellbraune Aktentasche. Sein Vater, ein Kesselschmied, war Kommunist und wurde 1933 von den Nationalsozialisten in die sogenannte Schutzhaft genommen. Heute geht der gelernte Ingenieur Harry Julich mit seiner schweren Tasche in Schulklassen, um den Schülern über die Nazizeit zu erzählen. Heute stellt Julich die Tasche auf die Bierbank am Wahlfahrt09-Stand und beginnt.

Vor 13 Jahren begann der jetzt 83-Jährige mit seiner Aufklärungsmission. “Die Jugendlichen haben Hakenkreuze und SS-Runen an die Wände geschmiert. Das hat die ganze Stadt empört. Werden da junge Nazis wieder rangezüchtet? Das ist doch eine Schande.” Harry Julich glaubt an die überzeugende Kraft des Arguments. Er will den jungen Eisenhüttenstädtern Geschichte anschaulich vermitteln. Ein wenig Stolz schwingt mit, als er sagt: “Heute gibt es keine Schmierereien mehr!”

Das Alter hat den 83-jährigen ein wenig vorn über gebeugt, aber hinter den Brillengläsern kommt aus blassblauen Augen ein wacher, eigensinniger Blick. In einer Arbeiterfamilie aufgewachsen, ist Julich früh und aus Überzeugung in die Partei eingetreten. Dazu gehörte für ihn auch die Diskussion um die Linie der Partei. Julich arbeitete als Assistent des technischen Direktors vom EKO. Seine Kommentare über die Politik der SED zogen das Mißtrauen der Genossen auf sich. Heute weiß Julich, dass seine Stasiakte 160 Seiten zählt.

“Ich habe auf die Worte der Partei gehört und habe dann etwas anklingen lassen, was einigen Leuten mißfallen hat. Diejenigen, die in meiner Akte geschrieben haben, kenne ich. Da waren 13 muntere Vögel über mir.“ Die Vögel waren Kollegen, Freunde und Bekannte.

Akte JulichAm nächsten Tag lädt Julich zu einer Stadtrundfahrt ein. Erster Stopp ist das Rathaus, ein brauner, abweisender Klotz am Ende der Lindenallee. Früher war hier das Haus der Parteien und Massenorganisationen untergebracht, hier mußte Julich das Urteil seines Parteistrafverfahrens entgegen nehmen. Nur mit viel Bücken sei er aus der Situation einigermaßen glimpflich wieder herausgekommen, sagt er später. Das Gehalt sei gleich geblieben, aber Julich wurde gemobbt. Bekannte und Kollegen zogen sich zurück. Im Fernstudium bildete er sich zum Stahlwerksingenieur weiter, sagt Julich: „Aber mein Gehalt ist nie mehr angestiegen“.

Langsam fährt Julich durch die ehemalige Werkssiedlung des Eisenhüttener Stadtteils Holzhausen. Von Blumen gesäumte Einfahrten führen zu gepflegten Einfamilienhäusern aus Holz. Die EKO-Direktoren und Abteilungsleiter wohnten wie in Wiesbaden, von Platte keine Spur. Auch sein ehemaliger Chef wohnte hier.

Nach der Wende hat Julich alle ehemaligen Spitzel persönlich konfrontiert. Zu jedem sagte er: „Du Stasispitzelschwein.“ Nur einer antwortete: „Harry, kannst du mir das verzeihen?” Julich schüttelt enttäuscht und leicht angewidert den Kopf. „Harry, ich war das nicht. Willst du denn dein Geschreibsel lesen? Wir haben dir doch nicht geschadet“, erinnert er sich an die Reaktionen. „Insgesamt haben sie mir aber geschadet, diese Stasispitzelschweine.“

Julich ist immer noch ein wenig der Querkopf der Stadt. Manch einem in der Stadt scheint sein freimütiger Umgang mit der Stasivergangenheit nicht zu schmecken. Neulich habe er abends einen Anruf erhalten. Der Anrufer nannte seinen Namen nicht, drohte: “Sag nichts mehr über diese Sachen, zeig die Akte nicht vor!” Die Stasi sei ein Tabu in Eisenhüttenstadt, sagt Julich. Bis heute seien alte Seilschaften erhalten, würden sich ehemalige Parteitreue gegenseitig unterstützen.

Julich wird seine Akte weiter vorzeigen.

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“Das jetzige System ist das Schlimmste” http://www.wahlfahrt09.de/menschen/das-jetzige-system-ist-das-schlimmste/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=das-jetzige-system-ist-das-schlimmste http://www.wahlfahrt09.de/menschen/das-jetzige-system-ist-das-schlimmste/#comments Mon, 10 Aug 2009 15:32:47 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=314 Gerhard

Foto: Michael Bennett

EISENHÜTTENSTADT. Gerhard ist 85 und in der “Bitterfelder Ecke” geboren. Als gelernter Schriftsetzer wurde er 1942 als Soldat eingezogen und im 2. Weltkrieg schwer verwundet, musste deswegen seinen Beruf aufgeben. Am Wahlfahrt09-Stand sprach er mit Reporterin Lu Yen Roloff

Ich wollte nicht nach Eisenhüttenstadt, ich bin als Seminarlehrer der Betriebsparteischule hierher versetzt worden. Heute ist Eisenhüttenstadt meine Heimat geworden, ich bin seit 1959 hier. Ich fühle mich wohl in Eisenhüttenstadt. Mir gefällt insgesamt der ganze Aufbau, der Wohnkomfort, nicht so wie drüben im Westen ein Block auf dem anderen, man guckt aus dem Fenster und hat’s grün.

Was mir nicht gefällt, sind die ganzen Einkaufseinrichtungen. Früher hatten wir die Handelsorganisation, und dann gab’s noch die Konsumgenossenschaft. Sechs Kaufhallen und der Konsum hatte zwei Kaufhallen, und die waren da für die Versorgung von 50.000 Leuten da. Heute haben wir Real, dort haben wir Aldi und dort Netto. Gucken sie mal hier, hier war ein Möbelkaufhaus, dahinten war das Kaufhaus für Industriewaren, es gab schon einiges in Eisenhüttenstadt. Im Rahmen der DDR hatte die Stadt einen Sonderstatus und aus der ganzen Republik sind Menschen hergekommen. Jeder hat seine Arbeit gehabt, sein Essen und sein Trinken. Die Bildung war gewährleistet vom Kindergarten an bis zum Studium. Wobei ich heute ganz offen sage, es konnte nicht so weiter gehen bei uns. Die Wirtschaftspolitik ist falsch gewesen.

Eisenhüttenstadt hat sich sehr verändert. Im EKO (Eisenhüttenkombinat Ost, Anm. der Redaktion) haben damals rund 12.000 Menschen gearbeitet, damals hat Eisenhüttenstadt 52.000 Einwohner gehabt, heute sind es nur noch rund 30.000. Wir hatten die Großbetriebe, die Großbäckerei mit 450 Beschäftigten, das Fleischkombinat mit 600 Beschäftigten, die Molkerei und die Baubetriebe. Das ist alles weg.

Nehmen sie mal die letzte Super Illu zur Hand, dort ist ein Interview mit dem Roland Kaiser drin. Der hat ganz offen gesagt, dass vieles hier einfach zu Unrecht geschehen ist. Ich finde zum Beispiel ungerecht, dass wir heute so eine hohe Arbeitslosigkeit haben und dass die Menschen gespalten worden sind. Es gibt auf der einen Seite die Superreichen, die kann man auf RTL abends um 19.10 Uhr sehen. Auf der anderen Seite wird heute eine erweiterte Sklavenarbeit betrieben. Manche müssen für einen Euro arbeiten, ja wo gibt’s denn sowas? Und das ist ne Gesellschaftsordnung? Man hat das wunderbar verstanden mit der Einheit Deutschlands die Bevölkerung zu spalten. Und das hat man gemacht, um zu verhindern, dass die Menschen auf die Straße gehen.

Die Gesetzlichkeit bei der Festlegung bei der Einheit, die wurde nicht eingehalten, hat auch der Roland Kaiser gesagt. Ein Kieler Professor hat in der Volkssolidarität Untersuchungen veröffentlicht: Werte in Höhe von 750 Milliarden haben die Russen hier rausgeholt. Als die Einheit Deutschlands kam, hat Russland der DDR gegenüber Schulden gehabt. Und was hat der dicke Kohl gemacht, der hat das dem Gorbatschow geschenkt. Darüber sagt man heute keinen Ton, die ganzen Reparationskosten haben wir zahlen müssen in Ostdeutschland. Wir haben nach Russland Kartoffeln geliefert, und die drüben im Westen hatten den Marshall-Plan, der zum Aufbruch in Westdeutschland geführt hat.

Ich habe vier Gesellschaftssysteme erlebt, die Weimarer Republik, die Hitlerzeit, die DDR und das jetzige System – und das ist das Schlimmste von allen. Die heutige Gesellschaft belügt und betrügt die Menschen auf eine Weise, die es in den vorherigen Gesellschaften nicht gegeben hat. Diese Regierung ist gelenkt und geleitet von Seiten des Großkapitals. Zum Beispiel die Banken, die Mist gebaut haben, die haben das Geld gekriegt und der kleine Mittelstand ist nach hinten angestellt worden.

Ich wünsche mir für Eisenhüttenstadt, dass das EKO voll und ganz wieder auf Touren kommt und dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht und dass auch Gesetze geändert werden, die zur Festigung der Staatsordnung beitragen. Wenn 12 Prozent arbeitslos sind, was will der Bürgermeister denn machen? Jetzt soll die Papierfabrik kommen, da sagen sie, es werden 500 Beschäftigte, aber es werden nur 150. Solar soll auch noch kommen. Nichts ist schlimmer, als wenn der Mensch keine Arbeit hat.

Man kann heute SPD, CDU oder Grüne wählen. Aber echte Freiheit gibt es nicht. Das was der Gysi will und der Lafontaine, vom Grundprinzip find ich das in Ordnung, das ist die einzige Partei, die gegen den Eintritt deutscher Truppen in Afghanistan ist. Wenn diejenigen, die für den Krieg stimmen, mal selbst im Krieg gewesen wären. Die können sich gar nicht vorstellen, was ein Krieg bedeutet. Sagen sie mir mal: Was haben wir denn in Afghanistan zu suchen?

Gespräch und Protokoll: Lu Yen Roloff

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