Wahlfahrt09 » Migration http://www.wahlfahrt09.de Mon, 03 May 2010 15:28:35 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.2.1 Ohne mich http://www.wahlfahrt09.de/orte/landkreis-im-demokratischen-vorruhestand/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=landkreis-im-demokratischen-vorruhestand http://www.wahlfahrt09.de/orte/landkreis-im-demokratischen-vorruhestand/#comments Sun, 27 Sep 2009 21:25:09 +0000 Daniel Stender http://www.wahlfahrt09.de/?p=3514 BÖRDE. Im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt blieben 2005 mehr Wähler zuhause als sonst wo in Deutschland: 32 Prozent gingen nicht zur Wahl – aus Langeweile, Politikverdrossenheit, Protest und Verpeiltheit. Auch 2009 gibt es viele Wahlberechtigte, die nicht wählen wollen. Fünf Begegnungen mit Nichtwählern in der Kreisstadt Haldensleben.

Nein, er wird nicht wählen gehen, erklärt der gepflegte ältere Herr, der seinen Pudel zwischen den Reihenhäusern von Haldensleben spazieren führt. Er schickt sich an zu gehen – doch dann bricht es plötzlich aus ihm hervor: „Dieser Verbrecherstaat! Mit dem möchte ich nichts zu tun haben!“, schimpft er. „Von mir aus sollte man die Mauer wieder aufbauen!“ Zeternd zieht er von dannen – einer von vielen, die sich im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt in den demokratischen Vorruhestand verabschiedet haben. 2005 gab es hier mit 68 Prozent die bundesweit niedrigste Wahlbeteiligung. Und bei der Europawahl in diesem Jahr lag die Quote bei knapp 40 Prozent, weit über die Hälfte aller Wähler blieb also zu Haus. Und doch ist es auf den Straßen der Kreisstadt Haldensleben mehr als schwierig, einen Nichtwähler zu treffen, der bereit ist, seine Abstinenz zu erklären.

Bei 68% Wahlbeteiligung geht eben doch noch ein großer Teil der Bevölkerung zur Wahl. Und es scheint, als hätten die sich verabredet, um uns das vielfältige demokratische Haldensleben vorzuführen: Der freundliche Vater bei McDonalds, die ältere Dame am Wegesrand, der junge Mann, mit seinem aufgemotzten Auto, sie alle sind überzeugte Wähler, ausgestattet mit den besten Argumenten.

Aber wo sind sie dann, die Nichtwähler in Haldensleben? Warum wählen sie nicht? Und sind sie alle derart stereotyp-ostalgisch wie der Meckeropa mit dem Pudel?

„Ist doch egal, wen ich wähle“

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

„Politik interessiert mich herzlich wenig“, sagt die 18-Jährige Saskia Sperl, als wir sie nicht weit entfernt von den Reihenhäusern des Meckeropas treffen. Eigentlich ist sie die klassische Zielgruppe all der Kampagnen, die Jungwähler dazu bewegen wollen, die Bundestagwahl 2009 als ihr erstes Mal in Sachen aktiver Demokratie zu nutzen. Aber die Partei, die Saskia Sperls Interessen vertritt, müsste wohl noch gegründet werden: „Eine Partei wäre für mich dann wählbar, wenn sie Steuern, Praxisgebühr und hohe Benzinkosten abschaffen würde“, sagt sie. In der Schule hat sie mal ein Referat über die Grünen halten müssen: „Das war nicht so spannend, aber einiges war auch interessant“, erinnert sie sich. Generell ist sie der Meinung, dass sich durch Wahlen „eh nichts ändert. Ob ich wen wähle oder nicht, ist doch ganz egal.“ Für die angehende Bürokauffrau sind andere Sachen wichtiger: Am späten Samstagnachmittag ist sie gerade mit einer Freundin auf dem Weg in eine Eisdiele, am Sonntagmorgen will sie ausschlafen und den freien Tag genießen. Sagt sie und düst mit ihrem kleinen Auto davon.

„Im Grunde keine Wahl“

53 Jahre alt ist der Dachdecker, der am Rand einer malerischen Kleingartenanlage wohnt und gerade in seinem Hof vor sich hin werkelt. Seinen Namen möchte der Mann nicht nennen, auch will er nicht fotografiert werden. Nichtwählen scheint selbst in Haldensleben eine Sache zu sein, die man eher im Verborgenen tut: „Man wird schnell populär heutzutage“, sagt er skeptisch. Er will nicht wählen gehen, weil er der Meinung ist, dass er „im Grunde keine Wahl“ hat. Schließlich haben sich durch die Große Koalition beide Volksparteien einander inhaltlich angenähert; „Wähle ich die CDU, dann habe ich ein Übel, wähle ich SPD, dann habe ich es auch“, sagt er. Aber, betont er immer wieder, er sei kein unpolitischer Mensch, er informiere sich und habe sich seine Enthaltung gründlich überlegt: „Wenn ich am Wahlabend die Ergebnisse ansehe, dann habe ich ein ruhiges Gewissen. Denn egal, wer gewinnt, ich habe damit nichts zu tun.“

Drei große Fragezeichen auf dem Stimmzettel

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

Fernab der Schrebergartenidylle der Kreisstadt liegt die Hafenstraße – die Gegend hat in Haldensleben keinen guten Ruf. „Fragen Sie mal bei denen, die sich da hinter der Tankstelle an ihren Bierflaschen festhalten“, hören wir von den vielen engagierten Wählern und machen uns auf den Weg in die Schmuddelecke. Aber die Biertrinker hinter der Tankstelle wollen ihre Ruhe. Oder sie sind gar keine Nichtwähler. „NPD“, sagt einer und grinst. Wenige Schritte entfernt sieht Haldensleben schon wieder ganz anders aus: Im nahegelegenen Jugendclub findet ein Benefizkonzert statt, viele eher alternativ aussehende Jugendliche in Kapuzenpullovern treffen sich hier mit Freunden. Die 28-jährige Kate ist Sozialpädagogin, sie hat die Konzerte im Jugendclub mitorganisiert. „Ich sehe in dieser Parteienlandschaft für mich keine Alternative“, sagt sie. Daher will sie „drei große Fragezeichen“ auf ihren Stimmzettel malen und ihn so ungültig machen. „Aber meine Stimme wird so schon gezählt und kommt nicht der NPD oder irgendeiner radikalen Partei zugute“, erklärt sie. Kate geht also zur Wahl, aber nur, um ihrem Protest gegen die vorhandenen Wahlmöglichkeiten Ausdruck zu verleihen. In den letzten Jahren hat Kate an den Wahlen teilgenommen: „Irgendwann in meinem Leben werde ich schon mal wieder wählen gehen“, sagt sie. In diesem Jahr aber ist sie nur indirekt dabei.

Nicht wählen, weil unterwegs

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

„Wir sind zu Besuch bei unseren Schwiegereltern“, sagen B. Sonnabend und G. Bertram. Wir treffen das junge Paar (23 und 20 Jahre alt) mit ihrem neun Wochen alten Sohn vor einem Altersheim im Stadtteil Alt-Haldensleben, wo die Stadt langsam in die sanften Hügel der Bördelandschaft übergeht. Die beiden stammen aus Lehrte bei Hannover und können nicht wählen gehen, weil sie unterwegs sind. „Wir haben zwar die Unterlagen zur Briefwahl bekommen, aber ich habe die weggeworfen“, sagt B. Sonnabend – es habe eben niemand gewusst, fügt die junge Frau hinzu, dass sie ausgerechnet am 27. September nach Haldensleben fahren würden. Sonst wären sie mit Sicherheit zur Wahl gegangen. „Immerhin“, sagt G. Bertram, „die Schwiegereltern sind gerade unterwegs zum Wahllokal.“

„Politiker sind scheiße“

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

Vado Manuel darf an der Wahl gar nicht teilnehmen: Er hat keinen deutschen Pass. Wir treffen den 18-Jährigen vor dem Lidl im Industriegebiet von Haldensleben. Vado Manuel wartet hier mit seinem 17-jährigen Cousin, die beiden telefonieren, albern herum und verbreiten mit ihren weiten Baseball-Klamotten etwas Hip-Hop-Flair auf dem öden Parkplatz. „Politik sollte sich dafür einsetzen, dass auch Ausländer die gleichen Rechte haben wie Deutsche“, sagt Vado Manuel. Seit 16 Jahren wohnt Vado Manuel in Deutschland und hat noch immer keinen deutschen Pass, obwohl er zu seiner afrikanischen Heimat viel weniger Bezug hat als zu Deutschland. Zur Zeit macht er eine Ausbildung zum Koch – die Lehre macht Spaß, sagt er. Selbst wenn er an der Bundestagswahl teilnehmen könnte, würde er aber nicht mehr wählen gehen: „Politiker sind scheiße“, sagt er: „Die machen Versprechen, die sie nicht halten.“ Er hat lange gehofft, dass ihm die Politik einen Pass verschaffen würde. Nun würde er aber nicht mehr wählen gehen, selbst wenn er dürfte. Das erste Mal Demokratie fällt für ihn auf jeden Fall aus.

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“Integration zur Normalität machen” http://www.wahlfahrt09.de/orte/integration-zur-normalitat-machen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=integration-zur-normalitat-machen http://www.wahlfahrt09.de/orte/integration-zur-normalitat-machen/#comments Fri, 11 Sep 2009 21:43:37 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=2487

Duisburg_Buergermeister

Foto: Milos Djuric

DUISBURG. Der Ruhrpott ist rot, Duisburg hat trotzdem einen CDU-Bürgermeister: OB Adolf Sauerland wurde am 30. August mit 44,6 Prozent im Amt bestätigt, viele mögen ihn und seine joviale Art – er fährt Motoroller statt Auto und hat im seinem Büro ein übergroßes Flugzeug-Modell der Boeing 747 namens “Duisburg”. Noch lieber zeigt er aber ein kleineres Modell des doppelstöckigen Airbus A380, der bald den gleichen Namen tragen soll.

Sie müssen als Duisburger Bürgermeister auch mit SPD-Kollegen zusammenarbeiten. Wie kommen Sie denn miteinander klar?

Ach, mit den Kollegen komm ich gut aus, aber da spielt auch die Parteipolitik kaum eine Rolle. Die Aufgabenstellung ist in den meisten Städten ähnlich. Da ist nicht viel Platz für Ideologien. Manche Städte haben noch Geld dafür, etwa Düsseldorf, aber wir schon lange nicht mehr.

Die rote Vergangenheit des Ruhrgebiets hat sich also erledigt?

Es gibt keine Stammwählerschaft mehr. Davon müssen sich alle Parteien freimachen, zumindest in der Kommunalpolitik ist das so. Natürlich gibt es Potenziale, die wir ansprechen müssen, und da ist Duisburg ohne Frage eine SPD-Stadt. Aber die SPD hat in Duisburg große Probleme, dieses Potenzial kommunalpolitisch in Wähler umzusetzen. Die Analyse sagt, dass die SPD 30% ihres Wählerpotenzials aktiviert hat, die CDU 70%. Und deswegen sind wir ungefähr gleich stark.

Aber die CDU hat gerade ihre Mehrheit im Stadtrat verloren…

Ja, aber auf was für einem Niveau! Ich mache Kommunalpolitik seit gut 30 Jahren, und dieses Niveau hätte ich mir damals nicht vorstellen können! Wir hatten damals immer knapp über zwanzig Prozent. Aber keine Frage, natürlich haben wir uns bei der letzten Wahl mehr versprochen.

Wie mobilisieren Sie?

Durch direkte Ansprache auch außerhalb des Wahlkampfes. Gerade ist Ramadan, und im Wahlkampf waren da viele Kommunalpolitiker unterwegs. Jetzt, seit den Wahlen am vergangenen Sonntag, bin nur noch ich unterwegs. Die Menschen wollen keinen Wahlkampf, sondern permanente Präsenz und Kommunikation mit der Politik. Und das wurde auch honoriert.

In Marxloh war das Ergebnis nicht so gut. Was muss die CDU dort machen?

Die Gegebenheiten des Ortes gut darstellen. In Obermarxloh wurde gesagt, das Ergebnis sei eine Katastrophe, und man kritisierte mich, weil ich mich angeblich zu sehr mit Türken zeige. Aber mein Ergebnis war dort 13 Prozent besser als das der CDU. Wer hat da Recht?

Also fremdelt die CDU mit Ihrer Integrationspolitik?

Was die CDU in fünf Jahren an Integration dazugelernt und an Potenzial entwickelt hat, ist schon enorm. Man sollte die Leute auch nicht überfordern. Jetzt haben wir sechs Jahre Zeit, das weiter zu entwickeln. Da wird sich einiges tun. Nordrhein-Westfalen hat jetzt einen Integrationsminister – das ist in der CDU nicht allen vermittelbar, aber es ist ein Zeichen! Das braucht alles etwas Zeit, aber wir sind auf einem guten Weg. Da sind für die CDU in Städten wie Duisburg richtig große Potenziale.

Welche Vorstellungen haben Sie für Duisburg, die Sie von der SPD abheben?

Wir müssen aus der Struktur einer Montanstadt raus. Aus Nostalgiegefühlen ist das okay, aber es ist nicht die Zukunft dieser Stadt. Die liegt auf anderen Feldern. Stahl ist wichtig für Duisburg, aber da wird es in Zukunft keine weiteren Arbeitsplätze geben. Wir müssen unsere Stadt attraktiver machen, uns zu einer Dienstleistungsstadt wandeln. Städtetourismus ist wichtig, das wird im Rahmen der Kulturhauptstadt 2010 zum Thema. Das sind die Märkte der Zukunft.

Welches Projekt haben Sie als Oberbürgermeister im Auge?

Integration zur Normalität machen. Integration ist kein Problem, es ist ein Potenzial. Ein Problem sind die fehlenden Deutschkenntnisse. Seit fünf Jahren schicken wir Deutschlehrer in die Schulen, das sind meist türkischstämmige Jugendliche, Lehramtsanwärter, die auch die Sprache der Kinder sprechen. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass durch diese Sprachförderung nicht nur die Deutschnoten besser werden, sondern auch die in allen anderen Fächern. Jetzt verstehen sie, worüber in Mathematik geredet wird!

Und wie gehen Sie die Probleme in Stadtteilen wie Marxloh an?

Wenn Sie in Marxloh waren, am Bebelplatz, gucken Sie sich mal um. Einfach mal die Augen aufmachen, was sehen Sie da? Wer sitzt da in den Problemecken? Und wer nicht? Dann kommen Sie zu Erkenntnissen, die will ich Ihnen jetzt nicht vorwegnehmen – die sind schon interessant. Und so ist der Bezirk aufgestellt. Wenn ich das jetzt sagen würde, gibt es nur Kartoffeln von denjenigen, die die Wahrheit nicht hören wollen.

Können Sie es noch etwas mehr andeuten?

Wir haben die junge Bevölkerung. Wir haben die alte Bevölkerung. Und wir haben eine hoch sozial schwache Bevölkerung. Und gucken Sie sich das mal an, wer welchen Hintergrund hat. Mit oder ohne Migrationshintergrund. Sie werden das sofort sehen. Wir waren mit dem WDR da, die haben das gefilmt. Und haben über die Probleme von Migranten in Marxloh gesprochen, und ich habe denen gesagt: Gucken Sie sich das einfach nur mal an. Welches Problem sehen Sie hier?

[Anm. d. Red: Wir sind dieser Frage mit einem Video nachgegangen, offenbar meinte OB Sauerland, dass nicht die Migranten, sondern arbeitslose Deutsche das Problem darstellen]

Wie wollen Sie diese Leute noch mitnehmen?

Wir müssen die mitnehmen! Wir müssen versuchen, Angebote so zu gestalten, dass die nicht sich übergangen sehen, dass die nicht Outsider der Gesellschaft sind. Da brauchen wir staatliche Angebote, da brauchen wir Gelder, um die mitnehmen zu können. Und wir brauchen eine Diskussion um Sozialgesetzgebung. Aber die muss ich nicht führen, das müssen die im Bundestag machen.

Interview: Lena Brochhagen, Malte Göbel

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Herr Grün und die Roten http://www.wahlfahrt09.de/menschen/herr-grun-und-die-roten/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=herr-grun-und-die-roten http://www.wahlfahrt09.de/menschen/herr-grun-und-die-roten/#comments Fri, 11 Sep 2009 13:54:26 +0000 Jan Patjens http://www.wahlfahrt09.de/?p=3043 Duisburg_Rainer_Gruen

Foto: Milos Djuric

DUISBURG.Aus Frust über die großen Parteien haben Deutsch-Türken in Duisburg einen eigenen Wählerverein gegründet. Sie wollen Menschen aus Zuwandererfamilien für die Politik gewinnen – und stellen fest, das ist nicht immer einfach.

Richtige Wahlkampfstimmung will nicht aufkommen an diesem Septembermorgen in der Friedrich-Engels-Straße in Marxloh. Schräg gegenüber der Marktklause haben ein paar ältere Männer von der SPD einen Infostand aufgebaut, es gibt Würstchen und rot-weiße Kugelschreiber. Der Bundestagsabgeordnete Johannes Pflug kämpft im Wahlkreis Duisburg II um ein Direktmandat. Doch das Interesse der Passanten hält sich in Grenzen. Und die CDU ist gar nicht erst gekommen, sehr zum Ärger der Genossen.

Marxloh, ein Stadtteil im Norden Duisburgs. Bundesweit bekannt wegen seiner Moschee, der größten in Deutschland, vor knapp einem Jahr eröffnet. Jeder Dritte der rund 18000 Einwohner stammt aus einer Migrantenfamilie. Man hat den Stadtteil mit Berlin-Neukölln verglichen und als Ghetto bezeichnet, als ein bedürftiges, von Arbeitslosigkeit und politischer Apathie geprägtes Problemviertel. Marxloh wurde zur „Chiffre für eine deutsche Banlieu“.

Marxloh ist mehr als eine deutsche Banlieu

Doch die Wirklichkeit ist vielschichtig, anders als das Klischee. In der Weseler-Straße, der Hauptstraße von Marxloh, gibt es sie zwar, die schmutzigen Gründerzeitfassaden, Wettbüros und Spielhallen, die Döner-Imbisse und dunklen Kneipen mit aschgrauen Gardinen. Aber es gibt hier eben auch prächtige Geschäfte für Brautmoden, Juweliere und Schuhläden, Ärzte und Apotheken mit türkischen Namen. Sie stehen für den neuen Mittelstand im Viertel.

Und noch etwas passt nicht in das Bild vom Problembezirk: Die Merkez-Moschee in Marxloh wurde ganz ohne Streit geplant und gebaut. Anders als in Köln, Frankfurt oder Berlin gab es hier keine Proteste der Anwohner und keine grundsätzlichen Bedenken. Vom „Wunder von Marxloh“ war deshalb die Rede.

Ein Wunder war es wohl nicht, eher ein Beispiel für Integration: Im Vorstand der Moschee sitzen Angehörige einer jungen Generation, pragmatische Deutsch-Türken, die im Ruhrgebiet aufgewachsen und beruflich erfolgreich sind. Den Bau der Moschee haben vor allem Frauen im Alter von 30 bis 40 Jahren vorangebracht. Sie setzten sich für einen Beirat ein, dem Vertreter christlicher Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Nachbarn angehörten. Und für ein Begegnungszentrum, das allen offen steht.

Am Infostand der SPD kann man an diesem Morgen indes auch beobachten, dass es nicht immer so gut klappt mit dem Dialog zwischen Deutschen und Migranten. Und das liegt nicht nur daran, dass Berlin und der Bundestag weit weg sind. Auch bei den Kommunalwahlen Ende August hat in Marxloh gerade mal jeder vierte Wahlberechtigte seine Stimme abgegeben, Negativrekord in Duisburg. Oft ist im Stadtteil der Satz zu hören, die Migranten interessierten sich doch eh nicht für Politik.

Migranten für Politik begeistern

Schon wieder ein Klischee? Rainer Grün, 41, ist einer, der es wissen muss. Er ist Vorsitzender der „Duisburger Alternativen Liste“ (DAL), einer Wählervereinigung, die Migranten für die Politik gewinnen und ihre Interessen in der Kommunalpolitik besser zur Geltung bringen will. Sein Vater stammt aus der Türkei, seine Mutter aus Deutschland. Grün arbeitet als Wachmann und kommt gerade von der Nachtschicht. Es ist kurz nach zehn, Zeit für einen Feierabend-Tee in einem Döner-Grill an der Weseler Straße – und für ein Gespräch über Politik.

Im Wahlkampf habe er gemerkt, wie schwierig es sei, Migranten für Politik zu begeistern, sagt Grün: „Hier haben viele verinnerlicht, dass sie ‚Ausländer’ sind, sie fühlen sich nicht als Bürger.“ Außerdem trauten die meisten den Parteien nicht mehr zu, die Probleme zu lösen. Nach wie vor würden türkischstämmige Menschen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt diskriminiert, es fehle an Unterstützung für Vereine und an Angeboten für Jugendliche. „Die Resignation ist riesengroß, da ist es nicht leicht, die Leute zum Wählen zu bewegen.“

Als Spitzenkandidat der DAL hat Rainer Grün das selbst zu spüren bekommen. Nur 1,1 Prozent der Stimmen hat die Wählervereinigung bei den Kommunalwahlen in Duisburg gewonnen – das reicht immerhin für ein Mandat im Stadtrat. So wird Grün nun erstmals in das Gremium einziehen, er könnte also zufrieden sein. Doch die Enttäuschung über das schlechte Abschneiden seiner Liste überwiegt.

Trotz urdeutschem Namen auf hinterem Listenplatz

Es ist nicht die erste Enttäuschung für Grün. Als er im Jahr 2004 gemeinsam mit zwanzig anderen Duisburgern die DAL gründete, trieb ihn vor allem der Frust über die Parteien an. Grün war viele Jahre SPD-Mitglied, ein „aktiver Funktionär“, wie er sagt. Die Genossen an der Basis hätten ihn allerdings nicht recht zum Zug kommen lassen: „Ich durfte zwar Pöstchen bekleiden und Plakate kleben, wenn es aber um politische Ämter ging, war für mich Schluss.“ Die Altgedienten hätten nichts von ihrer Macht abgeben wollen, er sei nicht nach Leistung, sondern nach seiner Herkunft beurteilt worden. „Trotz meines urdeutschen Namens“, sagt Rainer Grün.

Ähnlich erging es anderen Gründungsmitgliedern der DAL, zum Beispiel Gürsel Dogan: Er war lange in der CDU, kehrte der Partei aber den Rücken, als sie ihn vor der Ratswahl 2004 auf einen aussichtslosen Listenplatz setzen wollte. „Wir hatten keine Chance, und das ausgerechnet in Duisburg“, sagt Grün. Die Parteien trügen selbst dazu bei, dass Migranten sich von ihnen abwendeten.

Dabei müssten die Parteien eigentlich großes Interesse an Leuten wie Rainer Grün haben. Rund 700.000 türkischstämmige Wähler gibt es in Deutschland, fast jeder Fünfte Einwohner ist zugewandert oder ein Kind oder Enkel von Migranten. In manchen westdeutschen Großstädten wird in einigen Jahren die Hälfte der Jungwähler aus Migrantenfamilien stammen.

Integration ist Randthema im Wahlkampf

Kein Wunder also, dass die Parteien um Zuwanderer werben und sie offiziell willkommen heißen. Spitzenpolitiker wie Cem Özdemir und Lale Akgün, Bülent Arslan und Hakki Keskin sollen Migranten ansprechen. Die Förderung von Integration steht in allen Parteiprogrammen – immerhin ist das Thema in der Bildungs-, Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik von entscheidender Bedeutung.

Doch im Bundestagswahlkampf spielt Integration kaum eine Rolle. Für Schlagzeilen sorgte allein Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, als er bei einem Wahlkampfauftritt in Duisburg rumänische Arbeiter beschimpfte: Die kämen nicht pünktlich zur Schicht und wüssten nicht, was sie tun.

Und an der Parteibasis stoßen Migranten oft auf Ablehnung, sie haben es schwer, attraktive Listenplätze zu ergattern. Im Bundestag sitzen derzeit fünf türkischstämmige Abgeordnete, zur Zeit der rot-grünen Koalition waren es sogar nur zwei. In diesem Jahr kandidieren zwar mehr als zwei Dutzend Deutsch-Türken für den Bundestag, die meisten von ihnen rangieren jedoch auf hinteren Listenplätzen und haben kaum Aussicht auf ein Mandat.

Ein Drittel Migranten, ein Sechstel migrantische Abgeordnete

In Duisburg sieht es ganz ähnlich aus. Ein Drittel der knapp 500.000 Einwohner hat hier einen so genannten Migrationshintergrund, im Stadtrat sind derzeit jedoch nur fünf von 74 Abgeordneten türkischer Herkunft. Einer von ihnen ist Gürsel Dogan, jener Kommunalpolitiker, der die CDU 2004 verlassen hatte und als DAL-Kandidat ein Mandat gewann. Er schloss sich bald der CDU-Ratsfraktion an und trat seiner alten Partei wieder bei. In seinem Wahlkreis Duisburg-Hochfeld ist er vor zwei Wochen direkt gewählt worden.

Eine kleine Erfolgsgeschichte, keine Frage. Dem neuen Stadtrat werden nun immerhin acht Abgeordnete aus Zuwandererfamilien angehören. Und zur Bundestagswahl tritt in Duisburg wenigstens ein Direktkandidat türkischer Herkunft an: Hüseyin Aydin von den „Linken“. „Die Situation hat sich etwas verbessert“, sagt Rainer Grün, „einige Parteimitglieder haben ihre Lektion gelernt.“ Das sei auch ein Verdienst der DAL.

Im Stadtrat will Grün, der ehemalige Sozialdemokrat, nun den CDU-Oberbürgermeister unterstützen. „Wir haben uns zwar aus Protest gegründet, wollen aber konstruktiv Politik machen“, sagt er. Und registriert mit Genugtuung, dass die Ratsfraktionen jetzt um seine Stimme werben.

Schnellboot der Migration in die Politik

Dennoch wollen Grün und die DAL weiter gegen die Politik- und Parteienverdrossenheit vieler Migranten kämpfen. „Keine Integration ohne Mitbestimmung“ lautet einer ihrer Slogans. „Wir wollen Leute aus der Basis ins Rathaus schicken, wir sind das Schnellboot der Migration in der großen Politik“, sagt Grün und klingt fast schon wie ein Berufspolitiker. Mittlerweile hat die Wählervereinigung 25 Mitglieder, darunter sind viele Frauen. Fast alle sind Deutsch-Türken, obwohl man keine reine Migrantenliste sein will und auch ein deutscher Arzt dabei ist. „Dal“ ist das türkische Wort für Ast. „Wir wachsen“, sagt Grün, „und man kann sich an uns festhalten.“

Fragt man Abdullah Küҫük, warum er sich für die DAL engagiert, dann sagt er: „Ich bin Deutscher, gelte hier aber immer noch als ‚Ausländer’. Das will ich mal abschaffen.“ Küҫük, 36, ist in Duisburg geboren und in Marxloh aufgewachsen. Er hat bei Thyssen eine Ausbildung zum Verfahrenstechniker gemacht und arbeitet heute im Stahlwerk Hamborn. „Viele meiner Freunde haben studiert, einige sind Ärzte oder Geschäftsleute geworden“, sagt er. „Wir stehen für gelungene Integration, die Parteien verwenden nur das Wort.“ Auch in der Bundespolitik dienten ihnen türkischstämmige Abgeordnete oft nur als Aushängeschild.

Abdullah Küҫük hat bei den Kommunalwahlen in Alt-Hamborn kandidiert, seine Frau Ebru, 28, trat in Marxloh an. Ein Mandat für die Bezirksvertretung haben beide nicht gewonnen. Doch das sei auch gar nicht so wichtig, sagt er. Es gehe ihm vor allem darum, dass Menschen türkischer Herkunft überhaupt wahrgenommen würden, auf allen Ebenen der Politik. „Geh’ zur Wahl!“, das sei der wichtigste Appell der DAL.

Bockwurst statt Baklava

In der Friedrich-Engels-Straße haben die Genossen ihren Stand inzwischen wieder abgebaut. Die SPD habe überhaupt keine Schwierigkeiten, mit Migranten ins Gespräch zu kommen, sagt einer. „Wir haben auch selbst welche dabei, das entwickelt sich schon.“ Sicher ist, dass die großen Parteien es sich immer weniger leisten können, die Gruppe der Migranten zu vernachlässigen. Und vielleicht hilft es ja schon ein bisschen, wenn der SPD-Ortsverein im nächsten Bundestagswahlkampf nicht nur mit Bockwurst, sondern auch mit Baklava auf Wählerfang geht.

Rainer Grün jedoch kann es sich vorerst nicht vorstellen, zu den Roten zurückzukehren.

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Wenn Brautkleid, dann Marxloh http://www.wahlfahrt09.de/orte/wenn-brautkleid-dann-marxloh/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wenn-brautkleid-dann-marxloh http://www.wahlfahrt09.de/orte/wenn-brautkleid-dann-marxloh/#comments Fri, 11 Sep 2009 11:08:56 +0000 Lena Brochhagen http://www.wahlfahrt09.de/?p=3033 Duisburg. Duisburg-Marxloh ist klar spezialisiert: Gefühlt jedes zweite Geschäft verkauft Brautmode, und das nicht nur in Weiß. Für ihre Auswahl ist die Weseler Straße im Stadtteil Marxloh überregional bekannt, dafür sorgt Werbung im türkischen Fernsehen. Aus Berlin, den Niederlanden und sogar der Türkei kommen Kunden.

Als wahlfahrt09.de in der Fußgängerzone Station macht, haben gerade wieder zwei neue Geschäfte eröffnet. Einige Anwohner klagen, sie bräuchten endlich einen Bücherladen, kein weiteres Hochzeitsgeschäft, auch wenn die in leer stehende Läden kommen. Doch für die Brautmodenverkäufer ist die Monostruktur ein klarer Erfolgsfaktor. Eine Umfrage in Brautmode-Geschäften.

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Foto: Lena Brochhagen

Zehra Sahin, Verkäuferin im Brautmodengeschäft „Bayar“:

„In Deutschland ist Marxloh der Ort für Brautkleider. Wenn man ein Brautkleid braucht oder Abendmode oder Herrenmode, dann weiß man: Okay, wir fahren nach Marxloh. Die Kunden kommen sogar aus der Türkei. Es gibt hier so viele Läden, da hat man eine große Auswahl.

Deutsche wollen eher einfache Brautkleider, Türken mehr etwas Pompöses, Ausgefallenes – aber da ist auch jeder anders. Das Kleid muss aber immer einmalig sein.“

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Foto: Lena Brochhagen

Hülya Seren, Verkäuferin im Brautmodeladen „Topkapi”

„Gerade sind cremefarbene Kleider in Mode. Wir verkaufen auch Zubehör wie weiße Kopftücher. Die kann sich die Braut beim Friseur legen lassen. Auch viele Deutsche kommen hierher, die haben eigentlich den gleichen Geschmack wie Türken. Letztens sind auch Touristen gekommen, aus Japan glaube ich, die wollten sich den Laden angucken. Ich hatte vorher einen klaren Wunsch, wie mein Brautkleid aussehen soll, aber jetzt, weil ich hier arbeite, komme ich ganz durcheinander – ich weiß gar nicht, was ich kaufen soll.“

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Foto: Lena Brochhagen

Nagihan Güner, Verkäuferin im Brautmodengeschäft „Ophelia“

„Das Geschäft läuft in Marxloh sehr gut, auch wenn es viel Konkurrenz gibt. Am Wochenende kommen sehr viele Leute, die meisten aus den Niederlanden. So viele Geschäfte auf einen Fleck gibt’s nirgendwo in Deutschland. Das spricht sich rum. Es kommen auch viele Deutsche. Die sind sehr zufrieden mit dem Service.“

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Foto: Lena Brochhagen

Özlem Ülger, Inhaberin des Negligee-Geschäfts „özgül“

Ich verkaufe Unterwäsche für die Brautmode und die traditionellen gegenseitigen Geschenke zur Verlobung. Die Bräutigamseite muss der Braut ein Negligee-Set holen, plus Unterwäsche, Schminkartikel. Auch die Schwiegereltern bekommen etwas. Die Bräutigam-Seite muss mit 180 bis 240 Euro Kosten rechnen, die Brautseite zahlt weniger. Mein Geld verdiene ich mit den Kunden von außerhalb. Wären hier nur Leute aus Duisburg, hätte ich längst dicht gemacht.

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Foto: Lena Brochhagen

Esra Kunt, Verkäuferin im Brautmodengeschäft „White Lady Design“
„Wir produzieren unsere Kleider selbst. Die Mutter unseres Chefs ist unsere Designerin. Die Fabrik ist in Izmir. Die Kleider bei uns sind besser als Produkte aus China, da sind die Stoffarten nicht so gut. Man merkt die Qualität auf den ersten Blick, den Stoff, wenn man es anfasst.
Wenn man Brautmode sagt, kommt direkt in Gedanken ‚Marxloh’. Unser wichtigster Tag ist der Samstag, da kommen die Leute aus bis zu 400 Kilometern.“

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Die Start-Up-Migrantinnen http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-start-up-migrantinnen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-start-up-migrantinnen http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-start-up-migrantinnen/#comments Fri, 11 Sep 2009 08:21:45 +0000 Lena Gürtler http://www.wahlfahrt09.de/?p=3510 Duisburg_Brautmode-2Foto: Milos Djuric

ESSEN/DUISBURG. Ihre Wurzeln sind in der Türkei, Polen oder dem Iran. In Deutschland sind sie erfolgreiche Unternehmerinnen. Viele Frauen mit Zuwanderungsgeschichte sind selbstständige Unternehmerinnen – richtig wahrgenommen wird ihr Erfolg kaum.

Sie sind auf der Suche nach ihrem ganz eigenen Satz. In einem türkischen Restaurant in Essen sitzen 18 Frauen in einem Seminarraum, senken ihre Blicke auf kleine Zettel und hoffen, dass die Workshop-Leiterin sie nicht als Erste dran nimmt. “Reden. Begeistern. Überzeugen”, heißt das Seminar. Aufgabe eins: sein Unternehmen und sich selbst in einem Satz präsentieren. “Ich bin 43 Jahre, Mutter von zwei Kindern und Bilanzbuchhalterin”, sagt eine Frau. Sie ist zu spät gekommen, hat die Einführung verpasst. Und die Workshopleiterin korrigiert sie gleich:  “Wir vermarkten uns doch mit! Was interessiert es Ihre Geschäftspartner, wie viele Kinder Sie haben?” Die Frauen lachen. Sie tragen Absatzschuhe, Kostüme, weiße Blusen oder Hosenanzüge und machen nicht den Eindruck, als würden ihnen solche Anfängerfehler im Geschäftsalltag unterlaufen. Eine ist die erste türkische Steuerberaterin in Duisburg gewesen, eine andere ist Schuh- und Tascheneinkäuferin für eine deutschlandweit bekannte Kette, neben ihr sitzt eine Frau, die Unternehmen bei ihrer Expansion nach Rumänien berät.

Das Business-Netzwerk für Migrantinnen “Petek” organisiert den Workshop. Als acht Unternehmerinnen das Netzwerk 2005 gründeten, waren sie nach eigenen Angaben in Deutschland die ersten Migrantinnen, die mit einem eigenen Netzwerk auf ihren unternehmerischen Erfolg aufmerksam machen wollten. Und das, obwohl Migrantinnen öfter Unternehmen gründen als deutsche Frauen. Häufig gezwungenermaßen, denn sie sind auch öfter arbeitslos und haben Probleme mit der Anerkennung ihrer ausländischen Abschlüsse. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es  40.000 selbstständige Frauen mit Zuwanderungsgeschichte – wie es im Ministerium für Frauen- und Integration heißt. Dazu zählen auch die Töchter der Einwanderinnen. 17.000 dieser Unternehmerinnen haben einen deutschen Pass, doch als Wählerpotenzial scheinen deutsche Politiker die Frauen noch nicht entdeckt zu haben. “Bei mir hat sich während des Wahlkampfs kein Politiker gemeldet”, sagt Birnur Öztürk, die Vorsitzende von Petek. Wie die Anderen grübelt auch sie an diesem Abend über den perfekten Vorstellungssatz für ihr Vertriebsbüro.

Tülay Polat hat ihn schon gefunden: “Ich führe die Kommunikation Ihres Unternehmens ins digitale Zeitalter”, sagt sie ohne Zögern und Rotwerden. Mit ihrem Startup-Konzept für ein multikulturelles Anzeigenportal hat sie vor vier Jahren den ersten Preis eines Gründerwettbewerbs gewonnen. Doch an der Umsetzung ist sie gescheitert. “Damals wollte ich wie Ebay oder Amazon werden, jetzt hat es sich anders entwickelt, und das ist auch gut”, sagt Polat. Sie hat nicht aufgegeben. Inzwischen designt sie Onlineauftritte, bietet interkulturelles Marketing an. Wieder als selbstständige Unternehmerin. Ihre türkischen Wurzeln seien kein Hindernis für sie gewesen: “Gründerin ist Gründerin. Für Frauen ist das generell schwieriger als für Männer.” Letztlich sei es eine Frage des Bildungsniveaus. Wahrscheinlich aber auch eine Frage des Integrations-Levels: Die 37-jährige Polat hat zwar schwarze Haare und dunkle Augen, aber auch einen ausgeprägten fränkischen Akzent. Nach dem Abi in Hof hat sie BWL in Duisburg studiert.

Über den klassischen deutschen Bildungsweg in Richtung Selbständigkeit marschieren, diese Option haben ältere Migrantinnen nicht. Gül Alp ist 52 und Mitte der siebziger Jahre aus Anatolien nach Deutschland gekommen. Gerade sind die neusten spanischen Brautkleider in ihrem Laden in Duisburg-Marxloh eingetroffen. Gül sitzt zwischen ihrer Lieferung vollbehangener Kleiderstangen, nebenan berät eine Mitarbeiterin eine Frau beim Abendkleidkauf. Wer Brautkleider in Marxloh verkaufen will, hat starke Konkurrenz. Mindestens 33 Brautläden gebe es in der Umgebung, sagt Alp. Doch sie weiß sich durchzusetzen. In der Türkei wollte sie Lehrerin werden, in Deutschland war ihr Abschluss nichts mehr wert. Ihr Mann arbeitete als Dolmetscher am Gericht, und Gül Alp bekam vier Kinder. Neben der Kindererziehung arbeitete sie als Schneiderin. Dann zerbrach die Ehe.

Ohne die Scheidung wäre sie heute nicht selbstständig, sagt sie heute. So war sie gezwungen, selbst aktiv zu werden: Für ein Brautmodengeschäft nähte sie Brautkleider, änderte Kleider und übernahm schließlich von ihrem Chef den Laden. Jetzt finanziert sie ein neues Brautmodengeschäft für ihre Töchter in Düsseldorf und träumt von weiteren Geschäften in Berlin und München. Einen deutschen Pass hat Alp nicht: “Ich bin Ausländer, aber das deutsche Leben ist mir vertraut.” Stolz erzählt sie, dass ihre Töchter früher anderen Kindern Deutsch-Nachhilfe gaben. Die haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit und wählen grün. Wenn sie dürfte, würde auch sie wählen. Ohne Stimmberechtigung ist sie für die wahlkämpfenden Parteien im Moment allerdings uninteressant. Immerhin, einmal wurden sie und andere Frauen aus Marxloh von einem Politiker zum Essen eingeladen. Das war vor der Bürgermeisterwahl in Duisburg. Gül Alp hat kurz überlegt, ob sie hingehen soll. Schließlich hieß der CDU-Bürgermeister, der sie einlud, Adolf mit Vornamen. Doch Adolf Sauerland hat es geschafft, sie von sich zu überzeugen und damit auch von seiner Partei. Und so geht der CDU bei der Bundestagswahl eine Stimme verloren, weil Gül Alp nicht wählen darf.

Auch Birnur Öztürk, die Vorsitzende von “Petek”, darf nicht wählen, denn sie will ihre türkische Staatsbürgerschaft nicht aufgeben. “Ich soll Steuern zahlen. Ich bin ein Vorbild. Unsere Unternehmen sind gut aufgestellt.” Öztürk ärgert sich, dass sie trotz allem nicht wählen darf. Sie hofft durch das Business-Netzwerk stärker nach außen deutlich zu machen: “Wir sind Migrantinnen, wir sind aber auch Geschäftsfrauen. Wir sind hier angekommen, und wir sind auch Vorbilder.” Tülay Polat sitzt neben Öztürk und nickt. Hinter ihnen räumen Kellnerinnen den Seminarraum auf. Ein paar Frauen stehen noch zusammen, reden, tauschen mit der Workshopleiterin Visitenkarten aus. Es ist schwierig, die Frauen zu einem solchen Abend zusammenzubekommen. “Migrantinnen sind nicht an solche Netzwerke gewöhnt.” Sie suchten eher im eigenen Umkreis und in der Familie nach Rat und Unterstützung. Nicht ohne Folgen: Auch wenn Ausländerinnen häufiger Unternehmen gründen als deutsche Frauen, sie sind doppelt so oft von Schließungen betroffen. Gerade mal ein Drittel der Frauen sucht in der Gründungsphase Beratung in öffentlichen Stellen.

An Beratung hat es Tülay Polat bei ihrem ersten Gründungsversuch nicht gefehlt. An Krediten hingegen schon, obwohl sie einen deutschen Pass hat. Wählen geht sie auch. Doch im Wahlkampf fühlt sie sich von den Parteien nicht angesprochen: “Ich bin schon froh, dass dieses Mal das Migrationsthema nicht wieder aus der Schublade geholt wird.” Mehr Aufklärung und Zwischentöne wünscht sie sich, wenn es um Einwanderer geht: “Nicht jede angebahnte Ehe ist eine Zwangsheirat.” Durch das Netzwerk, so hoffen Polat und Öztürk, könnten sie stärker meinungsbildend wirken. Schließlich seien sie alle Positivbeispiele für gelungene Migration. So wie Gül Alp, die es allerdings erst ein einziges Mal zu einem der Business-Frühstücke von “Petek” geschafft hat. Sie ist einfach zu beschäftigt mit ihrem Hochzeitsgeschäft. Und die Arbeit zahlt sich aus. Traditionell zahlt der Schwiegervater für türkische Mädchen die Hochzeit, das Kleid und den Goldschmuck. Für die zukünftigen Frauen ihrer Söhne hat Gül Alp schon einen Tresor voller Goldschmuck gesammelt – und auch ihre Töchter kann sie bei der Hochzeit reich beschenken.

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Engagiert im Schwarzwald http://www.wahlfahrt09.de/menschen/engagiert-im-schwarzwald/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=engagiert-im-schwarzwald http://www.wahlfahrt09.de/menschen/engagiert-im-schwarzwald/#comments Wed, 02 Sep 2009 13:20:15 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3305 SCHÖNAU. Ethem Sahin ist Teil der rund 200köpfigen türkisch-stämmigen Community von Schönau im Schwarzwald – bei etwa 3000 Einwohnern. Seine Familie bewohnt ein Haus direkt neben der Kirche, er selbst ist Unternehmer und engagiert sich politisch in der SPD.

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