Wahlfahrt09 » Hartz IV http://www.wahlfahrt09.de Mon, 03 May 2010 15:28:35 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.2.1 Wahlfahrt09 – das war’s http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wahlfahrt09-das-wars/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wahlfahrt09-das-wars http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wahlfahrt09-das-wars/#comments Mon, 28 Sep 2009 13:29:07 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3404

20090928_wahlfahrt09_reichstag

Foto: Jörn Neumann

DEUTSCHLAND. Deutschland vor der Wahl jenseits der politischen Ballungszentren erleben – die Wahlfahrt09 reiste in 50 Tagen durch 20 Orte im Norden, Süden, Osten und Westen Deutschlands: Dabei führte die Tour über Eisenhüttenstadt hinunter nach Konstanz, über Leidingen nach Duisburg-Marxloh, in den hohen Norden nach Breitenfelde und Wismar, übers Wendland und schließlich nach Haldensleben in der Börde.

Am Wahlfahrt09-Stand zwischen den Fachwerkhäusern der Altstadt Haldensleben. Wochenlang haben wir gewartet, um 18 Uhr sind die Prognose und die ersten Hochrechnungen da: Mehrheit für Schwarz-Gelb. Ein Passant mit Sonnenbrille und Eishörnchen kommentiert: “Also ich hab die nicht gewählt.” Auch das Team der Wahlfahrt09 ist überrascht – denn Menschen, die CDU und FDP nahe stehen, haben wir auf unserer 50-tägigen Reise durch 20 Orte kaum getroffen.

Ein Rückblick auf einen Wahlkampfbesuch auf dem Heumarkt in Köln vor zwei Wochen: An diesem Abend wird Steinmeier auftreten, schon am frühen Nachmittag prangt der überdimensionale SPD-Würfel auf dem leeren Platz. Die Volkspartei gibt sich modern und interaktiv: Die Jusos haben junge Frauen angestellt, die andere Frauen mit einem „Ich kann Aufsichtsrat“-Schild fotografieren. An einem Touchscreen lassen sich personalisierte Wahlkampfprogramme ausdrucken. Eine Hartz-IV-Empfängerin humpelt über den Platz. Nach zwei Bandscheibenvorfällen kann die ehemalige Fleischerin nicht mehr arbeiten. Sie will sich Steinmeier nicht ansehen, denn die Politiker, sagt sie, lügen doch alle.

Viele sehen keine Perspektive mehr

„Wir dürfen das Ziel der Vollbeschäftigung nicht aufgeben“, tönt Steinmeier am Abend auf dem Höhepunkt seiner Wahlrede. Es wirkt antrainiert, ein reiner Slogan. Selbst Stammwähler der Partei, die in einer Kneipe am Rand sitzen, überzeugt das nicht. In ganz Deutschland gibt es zur Zeit 3,47 Millionen Arbeitslose, Tendenz steigend. Die Schaffung von Arbeitsplätzen steht in jedem Parteiprogramm – bei einigen auch gemeinsam mit dem kleinen Bruder der Vollbeschäftigung, dem Mindestlohn. Menschen wie die Fleischerin treffen wir oft auf der Wahlfahrt: Die sich von niemandem repräsentiert fühlen, die vieles verloren haben, die keine Perspektive mehr für sich sehen.

In Wismar sind durch die Schließung der Werft 1200 Menschen in Kurzarbeit. In Halle hat der Strukturwandel ganze Stadtteile entvölkert. Die Krise findet sich sogar in wohlhabenden Kommunen wie Konstanz – dort waren in diesem Jahr die Campingplätze ausgebucht, weil viele Deutsche kein Geld mehr für den Auslandsurlaub haben. Selbst in Wiesbaden mit seiner hohen Millionärsdichte stehen die Arbeitslosen trotz öffentlichem Trinkverbot in den Seitenstraßen.

Deutsche Problemecken

In Duisburg-Marxloh, wo türkische Brautmodenläden viele deutsche Geschäfte verdrängt haben, bevölkern vor allem Deutsche die „Problemecken“ des Stadtteils. So nennt der dortige CDU-Bürgermeister Adolf Sauerland die deutschen Drogenabhängigen auf den Bänken am Marktplatz, die seit der Schließung der Fixerstube keinen Anlaufpunkt mehr haben. In der Marktklause gegenüber von unserem Stand sitzen schon früh morgens die Alkoholiker und trinken ihre Schnäpschen zu lauter 80er Jahre Schlagermusik. Zwischen denWahlkampfplakaten von Linkspartei und SPD hängen Schilder mit dem Slogan „Aufbau Duisburg statt Aufbau Ost“.

Diese Beobachtungen sind zum Teil natürlich auch dem Konzept der Wahlfahrt09 geschuldet: Wir parken an zentralen Plätzen der Stadt, arbeiten dort an Biertischen unter freiem Himmel. Natürlich treffen wir also vor allem Leute, die keinen Ort haben, an dem sie sein müssen: Arbeitslose, Rentner, Obdachlose. Ihre Probleme bekommen wir auf der Wahlfahrt09 besonders häufig mit. Viele sind unzufrieden: Sie bekommen zu wenig Rente, zu wenig Hartz IV, reden sich in Rage, werden laut, deuten mit Zeigefingern auf uns, wenn sie die Politiker beschimpfen, mal als Abzocker, mal als Lügner, mal als Verbrecher.

Aufbau Ost, Abbau West

Das ist 20 Jahre nach der Wiedervereinigung im Osten wie im Westen gleich. In Eisenhüttenstadt, wo seit der Wende tausende Arbeitsplätze verloren gegangen sind, wird gerade für 630 Millionen Euro ein neues Papierwerk gebaut, gefördert mit Mitteln der EU – ein Tropfen auf den heißen Stein, gerade mal 600 neue Arbeitsplätze sollen entstehen. Im niederfränkischen Hof leiden die Betriebe unter der Konkurrenz aus dem Osten, die noch gefördert wird – während im Westen, wo nichts zu fördern ist, das Problem der Arbeitslosigkeit viel stärker zu Tage tritt.

Dort lässt sich die Arbeitslosigkeit noch nicht einmal mit dem Versagen des Sozialismus erklären. Unsere Reise macht deutlich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen und die Verwerfungen in der internationalen Arbeitsteilung viel weiter reichen, als es die Deutschen wahrhaben wollen. Mag sein, dass Deutschland Exportweltmeister ist, dass eine zukünftige Bildungsoffensive oder der Ausbau regenerativer Energien und grüner Technologien zukünftige Generationen beschäftigen wird – aber Hunderttausende sind im Hightechland überflüssig geworden. Sie sitzen jetzt in den Problemecken, lungern vor dem Supermarkt herum, sammeln Flaschen und durchwühlen Mülleimer.

Engagement und Gesicht zeigen

Doch es gibt auch Lichtblicke: Es kommen viele engagierte Menschen zum Wahlfahrt09-Stand. Sie arbeiten ehrenamtlich für Bürgerinitiativen, den städtischen Sicherheitsdienst in Görlitz oder als Sporttrainer im Wismarer Kanuverein. Menschen, die sich für konkrete Anliegen engagieren: Der Rentner, der sich für das deutsch-polnische Verhältnis in der Grenzstadt Görlitz-Zgorzelec einsetzt und gegen die NPD Gesicht zeigt; der Azubi, der in seiner Freizeit im Bürgerradio die Spitzenkandidaten des Landtags interviewt oder die Studenten vom Postkult e.V. in Halle-Glaucha, die mit einem Gemeinschaftsgarten gegen den Leerstand in ihrem Stadtteil ankämpfen und die Bürger dort wieder zusammen bringen wollen. Viele von ihnen sind Bildungsbürger, Rentner, Akademiker und Studenten.

Auf eine Bewegung der sozial Schwachen treffen wir aber nicht. Ein LKW-Fahrer, den wir auf einem Rastplatz trafen, drückte es so aus: „Wir könnten ja mal demonstrieren gehen. Aber dafür geht es uns wohl noch nicht schlecht genug.“ Nur einige Hartz-IV-Empfänger in Wiesbaden machen den Gegenangriff auf die öffentliche Wahrnehmung: Die „Initiative neue soziale Gerechtigkeit“ plakatiert alle zwei Wochen die Stadt mit schwarzweißen Postern, auf denen sie von Schikanen, Demütigungen und rechtswidriger Behandlung von Hartz IV-Empfängern sprechen und die Mitarbeiter zuständiger Behörden namentlich anprangern. Mehrheitsfähig sind sie mit ihrem umstrittenen Vorgehen aber nicht.

Ganz besonders leise sind die Frauen. Wir sprechen Passantinnen gezielt an, weil von selbst immer nur die Männer kommen. Sie sagen zwischen den Zeilen, dass sie in der Krise Besseres zu tun haben als zu politisieren. Wer soll sich um Kinder und Haushalt kümmern, wenn die Männer auf den Straßen abhängen? Wie das Überleben sichern? Manch eine gesteht, dass es ohne die Lebensmittelspenden von der Tafel nicht ginge.

Afghanistan, Europa und Außenpolitik sind kein Thema

Wohl auch, weil die Bundeswehr ein sicherer Arbeitgeber ist, gibt es von den Menschen, die im Bundeswehrstandort Sigmaringen leben, kaum Kritik am Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Nur selten gab es so etwas wie grimmige Solidarität und Unterstützung für “unsere Jungs da unten”. Für viele junge Männer sind die Bonuszahlungen für Auslandseinsätze eine willkommene Einnahmequelle, auch wenn nur wenige wirklich vom Sinn des Einsatzes überzeugt sind. Afghanistan ist ein Thema, das weder im Wahlkampf noch in unseren Gesprächen an vorderster Stelle stand. So war es auch mit anderen außenpolitischen Fragen, etwa wie Deutschland sich innerhalb Europas positioniert.

Aus der Perspektive der ausländischen Wahlbeobachter, die wir am Rande eines Wahlauftritts von Gregor Gysi in Halle trafen, ist besonders die wichtigste Frage im Wahlkampf ausgeklammert worden: Wie die Wirtschaftskrise und das Arbeitslosenproblem eigentlich konkret gelöst werden sollen, sobald die Wahl vorbei ist. Der Franzose Jay Rowell wundert sich: „Es müssen schmerzhafte Entscheidungen getroffen werden, wie der Haushalt saniert werden soll, durch Kürzungen oder Steuererhöhungen.“ Offenbar gebe es einen Konsens, „diese schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen.“

Auch sein holländischer Kollege Ton Nijhuis wundert sich über den Wahlkampf: Wenn viele Menschen nicht daran glaubten, dass die Politik die Arbeitslosigkeit bekämpfen könne, werde das von den Wahlforschern als „Politikverdrossenheit“ interpretiert: „Ich würde sagen, das ist Realismus erwachsener Bürger, die genau wissen, dass man viele Versprechungen aus dem Wahlkampf nicht einhalten kann.“

Die Wahlfahrt09-Analyse

Gleichzeitig fischt Gregor Gysi auf dem Hallenser Marktplatz nach Proteststimmen: „Selbst wenn Sie Grüne oder SPD wählen wollen – wenn Sie wollen, dass diese Parteien wieder sozialere Politik machen, müssen Sie die die Linke wählen.“ Protest wählen scheint vielen Menschen die letzte Lösung zu sein: Linkspartei, NPD oder ungültig stimmen.

Die politische Stimmung im Land, das ist das Fazit der Wahlfahrt, ist stark abhängig von der ganz persönlichen Lebenssituation der Menschen. Die Grünen wählen diejenigen, die unter Flugschneisen und in der Nähe des Atommüll-Zwischenlagers in Gorleben wohnen.

Und so betrachten wir am Ende unserer Reise das Wahlergebnis aus der Perspektive unserer Gesprächspartner: Zwar hat die Koalition aus CDU und FDP genug Stimmen bekommen, um das Land zu regieren. Aber nimmt man die rund 30 Prozent Nichtwähler und die vielen Protestwähler zusammen: Dann stehen hinter diesem Wahlergebnis vor allem Millionen Deutsche, die ein Gefühl eint: Keine Wahl gehabt zu haben.

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„Niemand redet darüber, wie die Krise nach der Wahl bewältigt werden soll“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 14:33:53 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3455 Foto: Jörn NeumannFoto: Jörn Neumann

HALLE. Jay Rowell ist seit 2001 Forscher in Politische Soziologie an der Centre National de Recherche Scientifique (CNRS). Er leitet seit 2007 das Strassburger Forschungsinstitut Groupe de Sociologie Politique Européenne (www.gspe.eu) und ist seit 2006 stellvertretender Direktor vom Centre interdisciplinaire de recherches et d’études sur l’Allemagne. Seine Forschung und Lehrtätigkeit betrifft die Soziologie des Staates, Politisierung und Studien über die Sozialpolitik in Europa und in der EU.

Viele Deutsche finden den Wahlkampf langweilig. Sie auch?

Ja, jeder spielt ziemlich defensiv. Mich erstaunt es besonders, dass gerade die kleinen Parteien nicht in die Offensive gehen. Dabei könnten sie gegenüber der großen Koalition so gut punkten.

Sie haben Westerwelle, Künast und Gysi gesehen – sind die nicht laut?

Westerwelle ist natürlich am lautesten, den habe ich gestern in München gesehen. Er hat von Steuersenkungen gesprochen, war aber nicht überzeugend: Es gab keine konkreten Aussagen, was er in einer schwarz-gelben Koalition machen wird. Es wurden alle Themen angesprochen, Bildung, Wirtschaft, die klassischen Themen der FDP, aber gerade bei Wirtschaftsliberalismus hätte ich mehr erwartet. Der Diskurs bleibt im Allgemeinen und sehr abstrakt, man hätte auch mehr Beispiele nehmen müssen. Das fehlt bei eigentlich allen bis auf Gysi.

Wie erklären Sie sich die Friedlichkeit der Parteien?

Das hat zum Einen mit der Wirtschaftskrise zu tun, die in der Großen Koalition gemeinsam bekämpft wurde. So können weder SPD noch CDU heute sagen, sie würden alles anders machen.  Und zum Anderen hat es mit der politischen Kultur zu tun: Es geht sehr viel um Kompetenz und Sachlichkeit. Das hat man im Kanzlerduell gesehen, da blieb die Diskussion immer sehr sachlich, es fehlte an Emotionen, Bildern und Symbolen. Vielleicht wagt man wegen der deutschen Vergangenheit nicht, populistisch oder emotional zu punkten.

Es fehlen also die strittigen Themen.

Was mich sehr erstaunt ist, dass es in dieser Debatte gar nicht so sehr darum geht, was nach der Wahl kommt. Die Krise ist ja schon ein Jahr alt, und auch wenn es langsam wieder aufwärts geht, kommt erst Morgen die schmerzhafte Entscheidung, wie der Haushalt saniert werden soll, durch Kürzungen oder Steuererhöhungen. Es gibt offenbar einen Konsens, diese schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen. 2005 hat die CDU das gemacht und fast verloren. Hier müssten die Journalisten die Kandidaten herausfordern und nachfragen, wie etwa Steuersenkungen finanziert werden sollen. Westerwelle sagt, das würde die Wirtschaft ankurbeln und sich dadurch refinanzieren, aber weiß seit Reagan 1981, dass das nicht funktioniert. Aber auch die SPD sagt nicht, wie es weitergehen soll, die Grünen mogeln sich um das Thema herum, und Merkel ist ebenfalls in der Defensive und hat Angst, den Wahlsieg noch zu verspielen.

Ist dieser Konsens-Wahlkampf typisch deutsch?

In Deutschland herrscht Konsens: Die Krise ist von außerhalb gekommen, es gibt zwar strukturelle Probleme, aber keine Schuldzuweisungen, nur bei den Linken findet man das. In Frankreich gibt es Versuche, die Schuld für die Krise auf nationaler Ebene anderen zuzuschieben: Weil angeblich Sarkozy und seine Vorgänger Deregulationspolitik betrieben haben.

Würden Franzosen Merkel oder Steinmeier wählen?

Ganz bestimmt nicht! Wobei in Frankreich im Grunde genommen Wahlen wie in Deutschland gewonnen werden: Man verspricht viel, das man hinterher nicht einhalten kann. Nur populistischer. Diese Bescheidenheit der beiden Kandidaten, das wäre in Frankreich unmöglich. Ein aufgeblähtes Ego ist sogar beliebt. Man sucht jemanden, der entscheiden kann, der durchsetzungsfähig ist und viel verspricht, das hat damit zu tun, dass der französische Präsident viel allein entscheiden kann, in Deutschland müssen die Politiker zusammenarbeiten und konsensfähig sein. Das erzeugt dann verschiedene politische Kulturen.

Mit welchen Themen könnte Steinmeier noch punkten?

Ich würde auf die Ängste abzielen, dass die FDP oder Schwarz-Gelb den Sozialstaat abbauen oder Steuern nur für die obere Schicht senken wollen. Das Problem ist, dass die SPD mit Hartz IV Reformen gegen den kleinen Mann gemacht hat, das muss sie jetzt anders machen. Und Steinmeier hat das alles mit entschieden. Daran wird die SPD noch lange zu knabbern haben.

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Die Wahl im internationalen Blick http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-wahl-im-internationalen-blick http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/#comments Thu, 24 Sep 2009 11:17:15 +0000 Lu Yen Roloff, Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3384 GruppeWahlbeobachter bei GregorGysi

Foto: Jörn Neumann

HALLE. Wir von der Wahlfahrt09 sind nicht die einzigen, die im Vorfeld der Bundestagswahl durch das Land reisen. Von unserer vorletzten Station Magdeburg machten wir einen kleinen Abstecher nach Halle, um dort ein internationales Wahlbeobachterteam zu treffen, das im Auftrag des Deutschen Akademischen Auslanddienstes unterwegs ist: 18 Wissenschaftler aus 18 Ländern, Politologen und Historiker mit dem Spezialgebiet Deutschland. Sie sind in Halle, um dem Wahlkampfabschluss der Linkspartei beizuwohnen und Gregor Gysis Rede zu hören. In den Tagen zuvor hörten sie bereits Renate Künast und Guido Westerwelle, den Wahltag erleben sie in Berlin – und werten dann die Reise gemeinsam aus. Vorab gaben uns die Wissenschaftler aus der Türkei, den Niederlanden, Frankreich, Argentinien, Polen und den USA schon eine kurze Zwischenbilanz ihrer Beobachtungen vor ihrem jeweiligen Hintergrund.

]]> http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/feed/ 0 „Der Europagedanke ist in Deutschland in der Krise“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 10:23:35 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3378 RuchniewiczFoto: Jörn Neumann

HALLE. Krzysztof Ruchniewicz ist Professor für Zeitgeschichte am Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw und beschäftigt sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen und Fragen der Europäischen Integration. Er koordiniert auch das deutsch-polnische Schulbuchprojekt, das Frank Walter Steinmeier als Außenminister angestoßen hat.

„Ich spreche hier viel über die deutsch-polnische Nachbarschaft und unser Verhältnis. Die NPD macht in deutschen Städten an der polnischen Grenze einen stark polenfeindlichen Wahlkampf. Jede polnische Zeitung, jedes polnische Medium berichtet darüber. Die Empörung ist groß, dass die deutschen Gerichte entschieden haben, dass diese Plakate nicht abgehängt werden dürfen. Gleichzeitig wird in der polnischen Presse aber betont, dass es nicht nur eine polnische Gegenreaktion auf diese Plakate gibt, sondern auch auf der deutschen Seite Initiativen entstehen, die sich dagegen wenden. Das bemerkt selbst die nationalkonservative Presse. Es herrscht eine größere Sensibilität auf beiden Seiten vor, und das zeigt, dass das nachbarschaftliche Verhältnis besser geworden ist.

Komisch ist jedoch, dass die Deutschen im Wahlkampf das Thema Europa nicht ansprechen. Polen wurde von Deutschland beim Natobeitritt und beim EU-Beitritt sehr unterstützt. Nun scheint eine Krise eingetreten zu sein, weil man nicht weiß, wie es in Deutschland mit dem Europa-Gedanken weitergehen soll. Was bedeutet das für Deutschland, sind da alle europäischen Fragen erfüllt, oder gibt es neue Fragen, die uns in der Zukunft stärker beschäftigen? Zum Beispiel der Klimaschutz oder die Frage der Energie. Es wäre wichtig, dass man dieses Thema nicht auf das deutsch-russische Verhältnis reduziert, sondern als eine gemeinsame Frage für die Europapolitik begreift. Stellt Deutschland die europäische Perspektive jetzt zurück und handelt stärker bilateral? Eine Fülle von Fragen, die in diesem Wahlkampf nicht thematisiert werden.

Mir fällt auch auf, dass sehr viele Menschen unzufrieden sind, sie bezeichnen etwa Zeitarbeit als verdeckte Arbeitslosigkeit, sprechen über HartzIV. Diese Themen irritieren die Leute. Manche kritisieren den Verfall der Werte, die Diskrepanz zwischen dem, was Politiker sagen und dem, was sie tun. Das hört man, wenn man am Biertisch sitzt und ein bißchen plaudert. Eine Partei wie die Linke, die sich um solche Themen kümmert, hätte in Polen aber keine Chance. Das hängt mit unserer Geschichte des Postkommunismus zusammen, man hat gelernt, kritisch auf die kommunistische Vergangenheit zu sehen, und da kann man nicht die Augen vor verschließen. Die Linke hatte bei uns in den letzten Jahren keinen großen Zulauf.

Wir Polen beneiden dieDeutschen um ihr Sozialsystem, angefangen von der ärztlichen Versorgung bis hin zur Arbeitslosenversorgung. Das haben wir noch nicht erreicht.“

Der Amerikaner – “Die Deutschen lieben Obama, aber hassen Amerika”

Der Holländer – “Den Niedergang der Volksparteien haben wir schon hinter uns”

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“Uns geht es noch zu gut” http://www.wahlfahrt09.de/menschen/uns-geht-es-noch-zu-gut/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=uns-geht-es-noch-zu-gut http://www.wahlfahrt09.de/menschen/uns-geht-es-noch-zu-gut/#comments Wed, 09 Sep 2009 10:50:16 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=2278 Becker3

Foto: Lu Yen Roloff

UNTERWEGS. Die Wahlfahrt09 traf Jürgen Becker, LKW-Fahrer auf der Fahrt von Wiesbaden nach Duisburg. Auf einem Parkplatz an der Autobahn stand Becker zwischen anderen rastenden LKW-Fahrern herum und beäugte neugierig unseren Bauwagen. Bei Kartoffelsalat und Würstchen war dann kurz Zeit für einen Smalltalk zum Thema Politik.

“Ach, Sie sind auf der Wahlfahrt? Man weiß ja nicht mehr, was man wählen kann heutzutage. SPD geht nicht, CDU geht nicht, FDP schon gar nicht. Gar nicht wählen geht aber auch nicht, dann bekommen die Stimmen die anderen. Ich wähl zum ersten Mal die Linke. Der Gysi haut den Leuten wenigstens auf die Finger. Oder man macht es so wie ich bei der letzten Oberbürgermeisterwahl: Da hab ich nur alles durchgestrichen und hingeschrieben: Leckt mich am Arsch. Da gab es keine Option.

Die Politiker versprechen ja nur Dinge, die sie nicht halten können: Neue Arbeitsplätze. Aber es gibt keine neuen Arbeitsplätze, da ist Feierabend.

Ach, sie fahren nach Duisburg-Marxloh? Ja, da gibts viele Türken. Und Einbrüche. Das sind aber auch die Hartz-4-Empfänger, von denen gibt es zuviele. Wovon sollen die auch leben? Ich war selbst mal eine Zeitlang arbeitslos und hab von Hartz4 gelebt. Die wollten mir, weil ich ein paar Cent über dem Wohngeld-Satz lag, die Wohnung wegnehmen.

Wir könnten ja mal auf die Straße gehen und demonstrieren. In Italien und Frankreich, wenn denen was nicht passt, dann sperren sie die Autobahn, und wenn einer durch will, dann kriegt der eins auf die Fresse. Aber dafür gehts uns Deutschen noch zu gut, wir sind zu bequem. Da muss es erst noch schlimmer werden.”

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“Die lassen uns fallen wie heiße Kartoffeln” http://www.wahlfahrt09.de/menschen/die-lassen-uns-fallen-wie-heise-kartoffeln/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-lassen-uns-fallen-wie-heise-kartoffeln http://www.wahlfahrt09.de/menschen/die-lassen-uns-fallen-wie-heise-kartoffeln/#comments Sat, 15 Aug 2009 15:49:11 +0000 Ulrike Linzer http://www.wahlfahrt09.de/?p=259

Alt

Foto: Michael Bennett

GÖRLITZ. Wolfgang und Eva Alter kamen spontan auf dem Rückweg vom Arbeitsamt zum Wahlfahrtsstand und sprachen über Altersarmut und Wahllügen.

Wolfgang Alter, 75 Jahre:

Ich möchte Ihnen etwas über Altersarmut erzählen. Mir wurde vom Sozialamt gesagt, ich hätte ein übersteigendes Einkommen. Dabei habe ich nach allen Ausgaben und Abzügen gerade einmal 290 Euro im Monat zum Leben, meine Frau bekommt Hartz IV, die Miete geht aber von meiner Rente ab. Für mich wäre es besser, ich würde Hartz IV bekommen. Dann müsste der Staat die Miete zahlen und ich hätte mehr Geld zum Leben. Ich habe mein Leben lang ehrlich und hart gearbeitet und habe jetzt als Rentner weniger als Hartz IV, wo bleibt denn hier die Gerechtigkeit? Soziale Gerechtigkeit gibt es nicht mehr, da war es besser zu DDR-Zeiten. Die SPD ist keine soziale Partei.

Keine Partei hilft uns. Ich spreche mit allen Parteien, ich höre mir an, was die Linke sagt und was die NPD sagt, ich gehe zu allen hin und erzähle meine Sorgen. Aber die machen ja nichts. Vor der Wahl hören sie alle zu und tun freundlich, sagen, dass sie sich darum kümmern. Aber die hören uns nicht zu, ich habe die Schnauze voll von diesem Staat, die lassen uns fallen wie heiße Kartoffeln.

Eva Alter, 56 Jahre:

Ich kriege in meinem Alter hier ja keine Arbeit mehr und lebe von Hartz IV. 321 Euro habe ich im Monat, das musste ich mir vor Gericht erkämpfen, vorher hatten sie mich auf 296 Euro eingestuft. Meine Sorge ist, wenn mal was kaputt geht, dann können wir uns nicht leisten, es zu reparieren oder etwas neu zu kaufen. Unsere Einrichtung im Schlafzimmer ist 30 Jahre alt, wir hätten schon gerne mal ein neues Bett. Wenn man jahrelang gearbeitet hat. Was hat uns die Wende gebracht? Nichts.

Protokoll: Ulrike Linzer

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„Münte merk’ dir gut: Rentner verarscht man nicht“ http://www.wahlfahrt09.de/orte/%e2%80%9emunte-merk%e2%80%99-dir-gut-rentner-verarscht-man-nicht%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259emunte-merk%25e2%2580%2599-dir-gut-rentner-verarscht-man-nicht%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/orte/%e2%80%9emunte-merk%e2%80%99-dir-gut-rentner-verarscht-man-nicht%e2%80%9c/#comments Thu, 13 Aug 2009 16:45:54 +0000 Kathleen Fietz http://www.wahlfahrt09.de/?p=817

Von Kathleen Fietz (Audio) und Michael Bennett (Foto)

Eisenhüttenstadt. Sie geben nicht auf: Jeden Montag protestieren Eisenhüttenstädter gegen Hartz IV. Und das seit fünf Jahren. Waren es anfangs noch Hunderte, kämpft heute nur noch ein Dutzend Demonstranten für ein sozialeres Deutschland.

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Politikfreie Zone an der Eisenhütte http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/politikfreie-zone-an-der-eisenhutte/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=politikfreie-zone-an-der-eisenhutte http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/politikfreie-zone-an-der-eisenhutte/#comments Thu, 13 Aug 2009 08:19:09 +0000 Kathleen Fietz http://www.wahlfahrt09.de/?p=243 Erschienen auf Spiegel Online am 13. August 2009

BLICK AUFS WERK ÜBER LINDENALLEE

Foto: Michael Bennett

EISENHÜTTENSTADT. Sechs Wochen bis zur Bundestagswahl, doch in der ehemaligen sozialistischen Vorzeigestadt ist davon nichts zu spüren. Politik bewegt hier kaum noch jemanden. Resigniert beobachten die Eisenhüttenstädter, wie ihre Stadt auf Kurzarbeit gesetzt wird – und systematisch schrumpft.

“Eisenhüttenstadt ist ein Labor, ein Menschenversuch gewesen”, sagt Ben Kaden und macht von oben ein Foto vom Rathaus, einem riesigen Komplex, das an faschistische italienische Baukunst erinnert. Vom Dach eines ehemaligen Kaufhauses, vier Stockwerke über der Stadt, hat man den besten Überblick.

Die erste sozialistische DDR-Planstadt ist inzwischen wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand des 33-jährigen Stadtsoziologen in Cordhose und blauen Humboldt-Uni-Shirt. Er lebt zur Zeit in Berlin, kehrt aber immer wieder in die Stadt zurück, in der er aufgewachsen ist, und schreibt in seinem Stadtblog über die Geschichte und die neuesten soziologischen Entwicklungen seiner alten Heimat.

Direkt vor dem Ex-Kaufhaus verläuft die Lindenallee, die das Rathaus mit dem eigentlichen Herzen der Stadt verbindet: dem Stahlwerk, das bis heute für alle wie in DDR-Zeiten nur EKO für Eisenhüttenkombinat Ost heißt. An den Straßenlaternen der Allee sind sieben Wochen vor der Bundestagswahl kaum Wahlplakate zu sehen.

Ben Kaden schreibt in seinem Blog: “Demnächst geht es wieder um die Wurst namens Bundestag und die Butter der Wählerstimmen und -stimmungen, die sich die Partei gegenseitig vom Brot nehmen wollen. Dies allerdings, so der Eindruck, nicht unbedingt in Eisenhüttenstadt, das als weitgehend wahlkampffreie Zone die müßige Sommerlaune zwischen Kiesgrube und Kleingartenarbeit genießt.”

Für den gebürtigen Eisenhüttenstädter ist die in der Modellstadt besonders intensive sozialistische Prägung dafür verantwortlich, dass sich kaum jemand politisch engagiert. Vor allem die Alten hier haben die Stadt um das Hüttenwerk mit aufgebaut. Standen hinter ihrer Vorzeigestadt für die Arbeiterklasse, in der die Idee eines besseren Lebens verwirklicht werden sollte.

Die Träume von damals sind in der Wand der Rathausvorhalle verewigt. “Unser neues Leben” heißt das große Natursteinmosaik des DDR-Staatskünstlers Walter Womacka. Es zeigt in DDR-Agitations-Manier den Weg von Steine klopfenden Trümmerfrauen über hämmernde Männer, die das Stahlwerk aufbauen, bis hin zum Paradies: Dort sieht man lachende Frauen mit spielenden Kindern. “Man wollte das Ideal eines besseren Lebens verwirklichen. Aber die Wirklichkeit hielt dem Anspruch nicht stand. Als die Arbeiterstadt gebaut war, hat sie das Utopistische verloren” sagt Kaden und deutet auf die vielen Friedenstauben im Mosaik. Neben den glücklichen Frauen und Kindern sind im sozialistischen Garten Eden keine Männer zu sehen.

“So viele Schichten, wie wir geschoben haben”

Dafür aber im gegenüberliegenden Imbiss “Automat”. Zwei von ihnen sitzen unter einem Sonnenschirm, einer vorm Bier, der andere vor einem Kaffee, und gucken den Autos auf der Straße der Republik hinterher. Was bewegt die Stadt gerade am meisten? “Die Kurzarbeit in der EKO und dass so viele von hier abgehauen sind und nun ganze Wohnkomplexe abgerissen werden”, erzählt einer der beiden. Sein weißes Hemd, die Goldkette und die Frisur – oben kurz, hinten lang – erinnert an die 80er Jahre. Lokbauer sei er früher bei der EKO gewesen, doch als er seinen Job verlor und ihn seine Frau verließ, habe er sich mit dem Alkohol verbrüdert. “Aber ich hab’ mich da wieder rausgezogen, arbeite jetzt als Fahrer bei der Stadt”, sagt er und wird unterbrochen von dem anderen Gast. “Was erzählt du denn für’n Scheiß, was redest du überhaupt mit denen”, schreit der plötzlich vor seinem Bier. “Ich will erzählen, dass wir was geleistet haben hier in der Stadt. Ich auf der Lok und du doch auch. So viele Schichten, wie wir geschoben haben.”

Von den 13.000 Arbeitern von damals arbeiten heute nur noch knapp 3000 im Stahlwerk, das inzwischen nach dem internationalen Mutterkonzern “ArcelorMittal” umbenannt wurde. Viele von denen, die in den Nachwendejahren ihre Arbeit verloren haben, hatten nicht so ein Glück wie der ehemalige Lokbauer – und sind schon mittags in den Imbissen der Stadt anzutreffen.

IMBISS AUTOMAT IN DER STRAßE DER REPUBLIK

Foto: Michael Bennett

Der Blogger Kaden fährt mit seinem Auto vorbei an den ersten Wohnkomplexen, die in den fünfziger und sechziger Jahren rund um das Hüttenwerk gebaut wurden. Die sand- und rosafarbenen klassizistischen Prachtbauten im sogenannten stalinistischen Zuckerbäckerstil bilden heute das größte deutsche Flächendenkmal. Ein krasser Gegensatz zu den später hochgezogenen Plattenbaukomplexen, die ein Stück weiter entfernt vom Stadtkern entfernt liegen.

Kaden legt eine DDR-Aufnahme eines Kinderhörspiel von Paul Hindemith ein. “Wir bauen eine neue Stadt, die soll die allerschönste sein”, singt der Kinderchor, während der Wagen durch die halb untergegangenen Stadtteile fährt, in deren Häusern oft nur noch ein paar Wohnungen bewohnt sind. Zwischendrin immer wieder Brachland, wo bereits Ende der Neunziger Häuser abgerissen wurde; längst ist dort schon wieder Gras über die leeren Flächen gewachsen.

“Zu DDR-Zeiten wollten alle nach Eisenhüttenstadt wegen der Neubauten”, erzählt eine Eisenhüttenstädterin, die mit Lockenwicklern im “Hier Hair” sitzt. Wie eine letzte Bastion wirkt der Friseursalon mit seinem grellgelben Ladenschild im Erdgeschoss des grau- und altrosafarbenen Plattenbaus, in dem kaum noch Gardinen an den Fenstern hängen. In spätestens zwei Jahren soll auch dieser Komplex abgerissen werden, die Stadt kann sich den Leerstand nicht leisten. 1988 haben hier 53.000 Menschen gelebt, heute sind es rund 20.000 weniger. “Wenn ich hier weg muss, kann ich dichtmachen. Meine ganze Kundschaft wohnt hier, und meine Mädels verlieren ihre Arbeit, wir müssen doch auch ein paar Junge in der Stadt halten”, sagt die Besitzerin Monika Langkabel.

“Der Werner ist seit 19 Jahren im Amt”

Zwei Friseurinnen hat sie ausgebildet, in drei Jahren will sie aufhören, und die beiden sollen den Salon übernehmen. Fragt man die Friseurmeisterin nach den bevorstehenden Wahlen, ist das 130 Kilometer entfernte Berlin weit, denn am selben Tag ist in der Stadt Bürgermeisterwahl. “Der Werner ist seit 19 Jahren im Amt, der bleibt bestimmt auch”, sagt sie. Vor ein paar Tagen hatte sie einen Termin bei dem SPD-Mann, nach den Linken bilden die Sozialdemokraten die zweitstärkste Fraktion im Stadtrat. Über den geplanten Abriss ihres Salons hat sie mit ihm gesprochen. Nett sei er gewesen, versprochen habe er nichts.

“Man muss die Bevölkerung mehr einbeziehen”, schimpft sie. In Schwedt, einer anderen ehemaligen DDR-Planstadt, in der sie früher auch ein paar Jahre gelebt hat, hat man die Plattenbauten nicht einfach abgerissen, sondern die oberen Stockwerke abgetragen und so die zusammengewachsenen Hausgemeinschaften erhalten. “Na man muss Optimist bleiben in dieser Stadt”, sagt die Friseurin, während sie ihrer Kundin die aufgerollten Haare mit einer nach Ammoniak riechenden Lösung betupft.

PÄRCHEN

Foto: Michael Bennett

Ben Kaden fährt zurück in die Lindenallee, wo sich auf dem Theatervorplatz zehn Eisenhüttenstädter zu einer Montagsdemo treffen. Eine Mittfünfzigerin mit rot gefärbten Haaren singt über Lautsprecher: “Wenn Münte sagt, die Rente steigt jetzt gut/dann fühl ich wie jetzt kocht in mir das Blut/nicht mal ein Prozent ist wie ‘n Schlag ins Gesicht/Münte merk dir gut, Rentner verarscht man nicht!” Seit genau fünf Jahren stehen sie jeden Montag hier und träumen von einer sozialeren Welt.

“Die Demo entspringt eher dem Trotz, den Regierenden eins auszuwischen, als sich im jetzigen System politisch einzubringen”, sagt Ben Kaden.

Am Ende der Allee legt sich die Abenddämmerung über die Hochöfen.



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