Wahlfahrt09 » Halle http://www.wahlfahrt09.de Mon, 03 May 2010 15:28:35 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.2.1 „Die Leute stehen sehr still da und klatschen höflich“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%e2%80%9c/#comments Fri, 25 Sep 2009 16:28:00 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3466 Sabado

Foto: Jörn Neumann

HALLE.Hilda Sabato ist Professorin für Geschichte an der Universität Buenos Aires. Seit sie 2003 Fellow des Wissenschaftskolleg zu Berlin war, besuchte sie das Land regelmäßig. Unter anderem ist sie spezialisiert auf Wahlen und Wahlkampf.

„Bisher war das, was ich vom Wahlkampf mitbekommen habe, sehr langweilig. Es gibt kaum echte Themen, über die sich die Parteien streiten. Heute bei Gysi war das anders. Und ich denke, die Leute waren auch überzeugt. Das sind ganz andere Menschen, die hier in Halle im Publikum stehen. In München, als wir bei Westerwelle waren, trugen die Frauen alle elegante Kleidung. Die jungen Leute sahen gesund aus, die Männer waren gut angezogen. Eine reiche Stadt – und dort kam Westerwelle sehr gut an. Hier in Halle sieht man, dass es den Menschen nicht so gut geht. Und ich habe das Gefühl, Gysi spricht genau zu diesen Menschen.
Bei Künast hat es mir auch gut gefallen. Die Grünen waren alles sehr nette Leute, die überzeugt sind, dass die Dinge besser werden müssen. Ich denke, die Grünen kommen gut an bei Menschen, die Zeit zum Zuhören, Lesen und Nachdenken haben, ein weniger emotionaler Ansatz. Dagegen haben Guido und Gysi eher Slogans, sind eher emotional. Aber das ist auch ein Zeichen kleiner Parteien, dass ihre Botschaft stärker ist, indem sie zeigen, wie sehr sie sich von den Volksparteien unterscheiden.

Ich bin Historikerin und eines meiner Themengebiete ist Leadership, also die Führung von Bevölkerung. Aus argentinischer Warte interessiert mich auch, wie die Deutschen mit der Krise umgehen. Während es bei uns ein richtiges Machtvakuum gab, scheint es aus der Ferne, als habe Deutschland die Krise bislang gut gemeistert. Aber interessant ist doch, dass die Menschen hier bei den Veranstaltungen so ruhig sind. Sie klatschen höflich, aber das wars. Ich vermute, dass viele Leute nicht richtig betroffen sind und deswegen der großen Koalition dankbar sind. Das ist so das, was ich bei Gesprächen auf der Straße mitbekommen habe: Dass es wenig Streit gegeben hat in der Krise. Auf der anderen Seite beschweren wir uns, dass der Wahlkampf langweilig ist.

Es ist schon überraschend, wie ordentlich und zivilisiert dieser Wahlkampf abläuft. Selbst heute bei Gysi, wo gesungen und geschrien wurde und einige Plakate hochgehalten haben. Die Argentinier sind da viel temperamentvoller. Die Deutschen denken nicht, dass diese Wahl ihr Leben verändern wird. In Argentinien haben wir erst seit 20 Jahren eine Demokratie. Und wir denken jedes einzelne Mal, dass alle politischen Handlungen, insbesondere die Wahlen, unser Leben verändern können. Das ist zwar nicht so, aber wir denken es. Also reagieren wir sehr emotional auf Politik. Dazu kommt, dass es viele Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen in Argentinien gibt, die im Wahlkampf an die Oberfläche kommen. Auch das ist hier nicht so. Die Menschen hier stehen sehr still da und hören zu. Ich glaube trotzdem, dass die Botschaft ankommt.“

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„In der Türkei würden tausende von Leuten kommen“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9ein-der-turkei-wurden-tausende-von-leuten-kommen%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259ein-der-turkei-wurden-tausende-von-leuten-kommen%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9ein-der-turkei-wurden-tausende-von-leuten-kommen%e2%80%9c/#comments Fri, 25 Sep 2009 15:43:34 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3477

Foto: Jörn NeumannFoto: Jörn Neumann

HALLE. Prof. Dr. Hüseyin Bagci ist seit 1992 Vize-Vorsitzender des Department für Internationale Beziehungen an der Middle East Technical University. Prof. Bagci beschäftigt sich besonders mit Internationaler Sicherheit, Europa-Themen, deutscher und türkischer Außenpolitik.

Was sagen Sie zum Wahlkampf in Deutschland?

Ich denke, es wird eine schwarz-gelbe Koalition geben.

Warum?

Merkel wird gewinnen, die CDU wird wieder stärkste Partei. Und auch die FDP hat zuletzt viel hinzugewonnen, Westerwelle hat sich in der Tat zu einem Staatsmann entwickelt. Ich finde schwarz-gelb auch besser für Deutschland. Vom Ausland haben wir gesehen, wie die großen Parteien für das Gute des Landes zusammen arbeiten können und Deutschland aus der Krise geführt haben. Sie sind ideologisch gesehen voneinander sehr unterschiedlich, aber sie haben durch realistische Herausforderungen zueinander gefunden. Es könnte sein, dass CDU und FDP für eine Reformpolitik im wirtschaftlichen Bereich schneller Entscheidungen treffen können als in einer Koalition mit der SPD.

Wie sehen Sie Merkel und Steinmeier?

Ich denke, dass Merkel Bundeskanzlerin bleibt. Herr Steinmeier ist zwar gut als Außenminister, aber er hat nicht einen bissigen Charakter wie Brandt oder Schmidt. Er ist mehr Bürokrat als Politiker. Bei Frau Merkel ist das anders.

Hätte einer von beiden Chancen in der türkischen Politik?

Ja, beide! Frau Merkel auf jeden Fall, wir hatten ja auch schon in den 90ern eine Ministerpräsidentin, Tansu Ciller. Wir haben unsere Erfahrungen vor den Deutschen gemacht (lacht).

Beiden wird ja oft vorgeworfen, sie seien langweilig…

Das ist unvermeidbar, weil sie miteinander koalieren. Auch menschlich gesehen ist es sehr schwer, jemanden anzugreifen, mit dem man fast jeden Tag Politik macht. Das natürliche Ergebnis dieser Koalition ist, dass beide nicht so aufeinander einschlagen, wie wenn einer in der Opposition wäre. Die Besonderheit dieser Wahl ist, dass beide Seiten die Verantwortung übernommen haben und die Krise gemeinsam gemeistert haben. Von Außen gesehen bewundern wir die deutsche Demokratie und Krisenbewältigung, dass Deutschland es geschafft hat, mit so wenigen Schäden aus der Krise zu kommen.

Es gibt 2,4 Millionen Türken oder türkischstämmige Leute in Deutschland, 700.000 von denen dürfen wählen, was sagen Sie denen?

Ach, die wissen selbst, was sie wählen, die meisten natürlich SPD oder die Grünen mit Cem Özdemir.

Wie wichtig ist für die Türkei die Frage des Beitritts zur EU?

Wir sind ja in Verhandlungen, und alle in der Türkei wissen, dass das nicht in der nächsten Woche kommt, sondern dass es noch mindestens zehn Jahre weiterläuft. Wichtig ist, dass die Türkei nicht aus diesem Reformprozess rausfällt. Am Ende muss man auch die Europäische Union als Partner sehen, nicht die Regierungen der Mitgliedsstaaten. Die müssen die Entscheidung der EU dann respektieren. Bis jetzt hat Deutschland, kein einziges Kapitel verhindert im Verhandlungsprozess, man kann nicht sagen, dass Deutschland dagegen ist, im Gegensatz zu Frankreich oder Griechenland. Die Mitgliedschaft wird nicht schnell starten, das wissen wir. Die Europäische Union ist ein wichtiger externer Faktor für die Demokratisierung der Türkei.

Welche Themen sind Ihnen im Wahlkampf aufgefallen?

Viele Problem, von denen man hier redet, sind bei uns keine Probleme. Aber Deutschland ist eine postindustrielle Gesellschaft, hier ist eine andere Gesellschaftsstruktur als in der Türkei, aber Bildungspolitik hat mich stark beeindruckt, Umweltpolitik, auch was die Arbeitslosigkeit und die Rente angeht, das wären auch Themen in der Türkei.

Was hat Sie überrascht?

Die Deutschen sind sehr ruhig bei Wahlkundgebungen. Bei uns ist es bunt und laut, viele Leute gehen hin. Bei uns ist Demokratie noch Erziehungsprozess, hier sind die Leute viel geübter, auch kulturell ist es anders. Wir haben die Chefs der kleinen Parteien gesehen, in der Türkei würden Tausende von Leuten kommen um sie zu sehen, gestern habe ich Westerwelle in München gesehen, der eventuell Außenminister wird, da waren nicht mehr als 700 Leute, in der Türkei würden das zehn- oder zwanzigtausend sein.

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“Die Deutschen lieben Obama, aber trotzdem hassen sie Amerika!” http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-deutschen-lieben-obama-aber-trotzdem-hassen-sie-amerika/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-deutschen-lieben-obama-aber-trotzdem-hassen-sie-amerika http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-deutschen-lieben-obama-aber-trotzdem-hassen-sie-amerika/#comments Fri, 25 Sep 2009 08:55:19 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3286 Foto: Jörn NeumannFoto: Jörn Neumann

HALLE. Andrei Markovits, Politikprofessor an der University of Michigan in Ann Arbor, veranstaltet zu jeder Bundestagswahl einen Wettbewerb unter seinen Studenten: Wer den Ausgang am besten tippt, bekommt eine Schwarzwälder Kirschtorte. Markovits selbst lag 2005 als Zweiter nur knapp daneben, diesmal tippt er folgendermaßen: SPD 26,8%, CDU 34%, FDP 13%, Grüne 9,2%, Linke 11,5%.  Er hat Einblick: Gerade ist er mit einer DAAD-Gruppe als Wahlbeobachter in Deutschland unterwegs. Mit der Wahlfahrt sprach er über den Niedergang der SPD, das Verhältnis zu Amerika und Obama im deutschen Wahlkampf – währenddessen lief im Hintergrund die Wahlkampf-Abschlussveranstaltung der Linkspartei mit Hauptredner Gregor Gysi auf dem Marktplatz von Halle.

Professor Markovits, gerade redet Gregor Gysi, wollen Sie den eigentlich nicht mit anhören?

Ach, er ist ein guter Redner, aber ich kenne ihn hervorragend, ich habe ihn schon 50 Mal gehört. Und ich schreibe gerade wieder ein Paper über ihn, im Vergleich mit Bruno Kreisky. Gysi als assimilierter Jude, bei dem das aber gar keine Rolle spielt, gegenüber Kreisky, bei dem jede Sekunde sein Judensein ein Issue war, für ihn, für Österreich, für beide, es war ein dauernder Tanz. Wenn das hier Westdeutschland wäre, würde es mich nicht interessieren, dort gab es ja eine Vergangenheitsbewältigung, aber in Österreich und im Osten nicht. Deswegen sind hier heute Rechtsradikalismus und Autoritarismus viel stärker als im Westen.

Sie nehmen das fünfte Mal an einer Wahlbeobachterreise in Deutschland teil. Was ist anders?

Ich erlebe den Wahlkampf eigentlich nicht viel anders, 1983, 1987, 1990, 1994, da war ich schon hier. Die Reise war anders, nur Männer, und eigentlich nur Amerikaner, Kanadier, Briten, Franzosen, Italiener. Und jetzt sind eine Nigerianerin, ein Chinese, ein Thailänder, eine Argentinierin dabei – die Welt ist anders! Und Deutschland ist größer geworden, damals sind wir nicht geflogen, nur mit dem Bus gefahren.

Und inhaltlich?

1983 war für mich sehr spannend, weil die Grünen gewonnen haben. An dem Abend hab ich Joschka Fischer kennengelernt. Das führte später zu meinem Buch “Grün schlägt Rot”.

Ist der Niedergang der SPD ein Resultat des Aufstiegs der Grünen?

Ich meinte nicht die Parteien, sondern dass der Welt-Diskurs vergrünt wird. Das ist so. Absolut. Und die SPD blutet, weil die Grünen das alles besetzt haben. Aber es gibt auch andere Gründe: Die SPD ist eine industrielle Männerpartei, es gibt heute weniger Industrie, und die Frauen sind ein viel wichtigerer Faktor. Aber das ist kein deutsches Problem, schauen Sie sich die SPÖ an! Die Labour Party, alle!

Welche Themen stehen für Sie im deutschen Wahlkampf im Vordergrund?

Es gibt keine übermächtigen Themen. Mich überrascht, dass es keine außenpolitische Debatte gibt. Das ist zwar nie entscheidend in einer liberalen Demokratie, aber Afghanistan, die Rolle der Nato – das ist null Thema! Oder Europa – das zeigt, dass die Europäische Union ein Konstrukt ist. Eine europäische Identität spielt in den Herzen der Leute keine Rolle . Nur wenn es um Amerika geht, ist das anders.

Wie meinen Sie das?

Die Europäer fühlen sich nur als Europäer, wenn es im Kontrast zu Amerika ist. “Wir Europäer sehen die Sache mit Kyoto anders.” Das ist eine emotionale Bindung, ein “Us versus Them”. Ansonsten ist Euroa aber kein emotionales Thema, und Emotionen sind das Wichtige in der Politik.

Also gibt es eher eine emotionale Bindung zu den USA – sind deswegen alle Deutschen Obama-Fans?

Es ist seltsam: Sie lieben Obama, aber trotzdem hassen sie Amerika! Diese Obama-Manie ist die andere Seite des Antiamerikanismus. Er wird als Europäer konstruiert, als kultiviert und Gegenstück zu Bush, als sensibel und fast als Sozialdemokrat. Doch das Bild bricht langsam. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, etwa über Afghanistan, wird diese Love Affair bald aufhören. Für mich ist diese Obamanie und die europäische Sicht auf Amerika total inkongruent.

Obama als Europäer? Dabei ist er doch eigentlich der Prototyp des American Dream…

Ja,  aber manche Europäer haben ein inferiores Bild auf Amerika. Das hat eine lange Geschichte, weil Amerika das erste nicht-aristokratische Land ist, das hat auch die deutsche linke Intelligenza übernommen. Ich finde das anmaßend: In Europa wäre es undenkbar, dass ein Halbschwarzer aus Kenia Stammender deutscher Kanzler wird. Oder zum Beispiel ein türkischstämmiger Bodybuilder Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Da ist Amerika Europa weit voraus!

Macht es für die USA einen Unterschied, wer in Deutschland die Wahl gewinnt?

Ich würde sagen: Null. Das ist dort total egal.

Die deutschen Parteien würden so gern Obama nacheifern. Haben Sie das im deutschen Wahlkampf gesehen?

Nach diesem faden Fernsehduell die Schlagzeile “Yes we gähn”, das war brillant! Aber im Wahlkampf ist hier nichts Ähnliches zu sehen. Wobei sich die Systeme auch nicht vergleichen lassen, das wäre nicht wie Äpfel und Birnen, sondern Äpfel und Kürbisse. Allein die Herangehensweise: Wir haben Frau Künast in Freising gesehen, mittags um 12 Uhr, vor 50 Leuten, und allein wir waren schon 20 davon. Ich habe nicht verstanden, warum sie das gemacht hat. Warum gehe ich in ein Land, wo ich eh nicht gewinnen werde, da gehe ich doch wenn dann nach München wie der Westerwelle. Aber ich bin mir sicher, der Grünen-Campaignmanager weiss, was er tut.

Welche Eindrücke nehmen Sie sonst mit aus Deutschland?

Etwas Tiefgründiges? Null! Aber indem ich nichts Wichtiges oder Erschütterndes mitnehme, sehe ich, dass es eine gut funktionierende, etwas fade, stabile Demokratie ist, in der die Entscheidungen wie in jeder guten Demokratie relativ klein oder nicht weltbewegend sind. Ob wir nun rot-schwarz oder schwarz-gelb in den nächsten Jahren haben – das ist eigentlich ziemlich wurscht.

Der Pole – “Der Europagedanke ist in Deutschland in der Krise”

Der Holländer – “Den Niedergang der Volksparteien haben wir schon hinter uns”

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„Den Niedergang der Volksparteien haben wir schon hinter uns“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eden-niedergang-der-volksparteien-haben-wir-schon-hinter-uns%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eden-niedergang-der-volksparteien-haben-wir-schon-hinter-uns%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eden-niedergang-der-volksparteien-haben-wir-schon-hinter-uns%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 17:47:42 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3274 20090924_wahlbeobachter_02

Foto: Jörn Neumann

HALLE. Internationale Wahlbeobachter reisen auf Einladung des DAAD durch Deutschland. Der Politikwissenschaftler Ton Nijhuis, wissenschaftlicher Leiter des Deutschland Institut Amsterdam (DIA) an der Universität von Amsterdam, ist einer von ihnen. Der Niedergang der großen Volksparteien ist ihm aus seiner Heimat schon bekannt – dort ist inzwischen die rechtspopulistische PVV die stärkste Partei. Mit der Wahlfahrt09 sprach er über Parallelen und Unterschiede zwischen den Niederlanden und Deutschland.

Sie haben die deutschen Spitzenpolitiker gesehen. Westerwelle, Künast oder Gysi – wer schreit am Lautesten?

Westerwelle hat mir gut gefallen. Nicht seine politische Programmatik, sondern seine Rhetorik. Da merkt man, dass die deutschen Politiker gegenüber den niederländischen sehr große rhetorische Vorsprünge haben.

Das ist ja nicht gerade das, was man Steinmeier und Merkel nachsagt…

Merkel und Steinmeier ähneln in dieser Hinsicht mehr den niederländischen Politikern. Der Wahlkampf zwischen diesen zweien, die Wahlkampfveranstaltungen und die Berichterstattung in der Presse – all das ist sehr langweilig. Da fühle ich mich zuhause, denn das ist in den Niederlanden genauso.

Sind die Deutschen also genauso langweilig wie die Niederländer?

Bei uns weiß man auch nie, wie es nach den Wahlen weitergeht. Alle koalieren mit allen, und im Wahlkampf versuchen die Parteien, alle politischen Streitigkeiten zu vermeiden. Sie sprechen die eigene Klientel an und polarisieren sonst nicht. Lagerwahlkampf wie früher in Deutschland gibt es nicht – aber hier auch nicht mehr. Es ist schon bemerkenswert, dass man eine Regierung hat und sowohl Kanzler als auch Vizekanzler sagen: Bitte nicht nochmal vier Jahre große Koalition. Da kann man schwer die Regierung abwählen.

Was ist für Sie neu in diesem Wahlkampf?

Deutschland nähert sich immer mehr der europäischen Realität an. Das Mehrparteiensystem, das Erodieren der Volksparteien, das ist in anderen Ländern schon sehr viel früher passiert. In den Niederlanden stellen die klassischen Volksparteien nur noch eine Minderheit. Was früher die politische Peripherie war, ist heute das Zentrum, und umgekehrt. In Deutschland sehe ich ähnliche Tendenzen.

Was könnten SPD und CDU vom niederländischen Beispiel lernen?

Leider haben wir bislang kein Erfolgsrezept. Bei uns ist die Lage sehr viel dramatischer: Die rechtspopulistische Partei „Groep Wilders“ ist inzwischen die stärkste Partei in den Niederlanden. Und die Partei hat wie viele Mitglieder? Ein einziges! Geert Wilders. Die sozialdemokratische PvdA, die mit der SPD vergleichbar ist, hat nur noch 15 Prozent; die christdemokratische CDA – also unsere CDU – kommt nur noch auf etwa 20 Prozent.

Was hat denn diese Entwicklung in den Niederlanden eingeläutet?

Die gleiche wie in Deutschland: Die klassischen Milieus, auf die sich die Parteien stützen, sind nicht mehr vorhanden. Man braucht da andere Strategien, um die Wähler zu binden. Die SPD hat Wähler verloren an die Linken und die Grünen, die CDR verliert ständig Mitglieder, hat sich aber von einer konfessionellen Partei zu einer Partei der Mitte um positionieren können. Der Unterschied ist, dass wir in den Niederlanden keine Fünfprozent-Hürde haben. Es gibt Parteien, die mit 0,7 Prozent ins Parlament einziehen. Es ist also sehr viel einfacher, eine Partei zu gründen.

In Deutschland hat sich die Piratenpartei gegründet, und wir beobachten viele Abspaltungen von jungen Parteimitgliedern, die selbst Parteien gründen oder direkt kandidieren.

Die haben aber keine Chance in Deutschland. In den Niederlanden haben wir im Parlament zwei Mandate der Tierpartei! Weil die anderen Parteien sich so sehr ähneln, macht es keinen Unterschied mehr, wer an der Macht ist. Und dann kann man mit einem einzelnen Thema ein Statement setzen, das einige Wähler überzeugt.

Wie verändert das den politischen Alltag, wenn man Einthemenparteien hat? Gibt es in diesen Parteien überhaupt genug Kompetenzen, um breite gesellschaftliche Themen wie Arbeit, Wirtschaft oder Gesundheit zu diskutieren?

Nein, aber das sind die anderen Parteien auch nicht. Generell ist es ein Luxus, dass man eine so stabile politische Kultur und soviel Konsens hat, dass man sich so etwas erlauben kann. Und wenn es uns wirklich um etwas Wichtiges ginge, dann hätten die Leute schon anders gewählt.

Das heißt, unsere Probleme sind noch nicht groß genug?

Das würde ich so nicht sagen. Ich möchte lieber über etwas sehr Positives in Deutschland sprechen: Die Mitte erodiert hier zwar und man hat mehr Parteien an den Rändern. Aber während andere Länder in Europa sehr große Wählerschaften an die rechte Seite des politischen Spektrums verlieren – in den Niederlanden sind das 25 %, in Belgien, Flandern und Frankreich gibt es dieses Phänomen auch – ist es der Bundesrepublik bis jetzt gelungen, dieser rechten Seite der Erosion keinen Raum zu lassen. Und im politischen Diskurs redet man viel verantwortlicher über heikle Themen als bei uns – so dass Rechts hier nicht salonfähig wird.

Gleichen sich Wahlkampf und Wahlwerbung in den Niederlanden und Deutschland? Was sind die augenfälligsten Unterschiede?

Die deutschen Parteien sind sehr viel professioneller, weil sie mit sehr viel mehr Geld ausgestattet sind, um den Wahlkampf zu organisieren. In Holland haben die Parteien fast kein Budget. Schaut man sich hier die Parteisitze von SPD und CDU an – das sind Riesengebäude mit wahnsinnig vielen Mitarbeitern. Dagegen gibt es bei uns nur kleine Vertretungen, da sind vielleicht fünf Mitarbeiter. In Deutschland gibt es laut Grundgesetz mehr Geld vom Staat.

Und gibt es auch Ähnlichkeiten?

Die Parteien in beiden Ländern haben ihren Charakter zu Staatsparteien verändert. Beide waren früher eine Brücke zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat. Wenn sich Parteien auf den Staat richten, das Geld von ihm bekommen und sich auf ihn positionieren, hat das zwei Konsequenzen: Sie werden immer mächtiger und die Wichtigkeit von Positionen und Ämtern nimmt gegenüber der repräsentativen Funktion ab. So verlieren die großen Parteien ihre Wurzeln in der Zivilgesellschaft – und das führt auch zu ihrer Krise.

Also muss man als Partei in der Opposition bleiben, um diesen Effekt zu verhindern?

Zumindest den Kontakt zur Bevölkerung wieder aufnehmen. Nehmen sie die Linke – das ist eine typische „Kümmerpartei“. Das gibt es so in Holland ebenfalls. Dazu gibt es eine weitere Reaktion in den Niederlanden: Anti-Establishment-Bewegungen jenseits des Parteiensystems wie den parteilosen Pim Fortuyn – oder Geert Wilders, der eine Partei hat, deren einziges Mitglied er selbst ist. Vor solchen Entwicklungen bietet das deutsche politische System gute Schutzmechanismen – etwa der Föderalismus, in dem so etwas zuerst auf Landesebene experimentiert werden muss und die Fünfprozentklausel.

Haben wir Deutschen ähnliche Probleme wie die Niederlande?

Es gibt die gleichen Strukturzwänge in allen Ländern wie Globalisierung und Finanzkrise, und keiner glaubt mehr, dass der Staat und die Politik noch in der Lage ist, diese Probleme zu lösen.
Wenn viele Leute antworten, dass sie nicht glauben, dass die Politik tatsächlich die Arbeitslosigkeit bekämpfen kann, wird das von den Wahlforschern als „Politikverdrossenheit“ interpretiert. Ich würde sagen, das ist Realismus erwachsener Bürger, die genau wissen, dass man viele Versprechungen aus dem Wahlkampf nicht einhalten kann.

Wenn tatsächlich so viele Bürger bereits wissen, dass Wahlkampf lediglich symbolische Funktionen, aber kaum reale Konsequenzen hat – wie sinnvoll ist Wahlkampf als politisches Instrument dann überhaupt noch?

Wir brauchen Regierung und Opposition, die sich abwechseln, das müssen wir organisieren, Parteien sind eine Möglichkeit. Der Wahlkampf ist ein symbolischer Moment, in dem man die Menschen mobilisiert und diesen Wechsel symbolisch möglich macht. Aber ich sehe das nicht als eine Entscheidung, die vier Jahre trägt. Statt dessen sind Wahlen eine punktuelle Momentaufnahme einer politischen Stimmung. Wenn das so ist, dann sollten wir zu einem System kommen, in dem man zwischendurch viel mehr Möglichkeiten hat, punktuell zu messen – oder andere Forme von direkter Demokratie zu entwickeln, die über die Parteien hinaus gehen. Schließlich sind sie Organisationsformen mit Strukturen aus dem 19. Jahrhundert. Die ganze Gesellschaft hat sich aber modernisiert.

Gibt es Themen, die ihrer Meinung nach in diesem Wahlkampf zu kurz kommen?

Dieser Wahlkampf ist eine nationale Nabelschau. Und das, obwohl wir eine internationale Finanz- und Wirtschaftskrise bewältigen müssen. Ob Politiker, Experten oder Journalisten – alle reden nur über die deutschen Maßnahmen, die deutsche Finanzlage, die deutsche Politik. Man muss sehr viel nachfragen, um überhaupt ein Ausland zu entdecken. Europa ist ein Wort, das ich noch niemanden freiwillig habe benutzen hören. Kleine Länder wie Irland oder Portugal können sich einen europaskeptischen Standpunkt leisten. Aber wenn Deutschland sich seiner europäischen Verantwortung entzieht, ist das gravierend: Denn Deutschland ist das Land, dass die EU doch zusammenhält, es hat eine andere Verantwortung.

Der Pole – “Der Europagedanke ist in Deutschland in der Krise”

Der Amerikaner – “Die Deutschen lieben Obama, aber hassen Amerika”

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„Niemand redet darüber, wie die Krise nach der Wahl bewältigt werden soll“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 14:33:53 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3455 Foto: Jörn NeumannFoto: Jörn Neumann

HALLE. Jay Rowell ist seit 2001 Forscher in Politische Soziologie an der Centre National de Recherche Scientifique (CNRS). Er leitet seit 2007 das Strassburger Forschungsinstitut Groupe de Sociologie Politique Européenne (www.gspe.eu) und ist seit 2006 stellvertretender Direktor vom Centre interdisciplinaire de recherches et d’études sur l’Allemagne. Seine Forschung und Lehrtätigkeit betrifft die Soziologie des Staates, Politisierung und Studien über die Sozialpolitik in Europa und in der EU.

Viele Deutsche finden den Wahlkampf langweilig. Sie auch?

Ja, jeder spielt ziemlich defensiv. Mich erstaunt es besonders, dass gerade die kleinen Parteien nicht in die Offensive gehen. Dabei könnten sie gegenüber der großen Koalition so gut punkten.

Sie haben Westerwelle, Künast und Gysi gesehen – sind die nicht laut?

Westerwelle ist natürlich am lautesten, den habe ich gestern in München gesehen. Er hat von Steuersenkungen gesprochen, war aber nicht überzeugend: Es gab keine konkreten Aussagen, was er in einer schwarz-gelben Koalition machen wird. Es wurden alle Themen angesprochen, Bildung, Wirtschaft, die klassischen Themen der FDP, aber gerade bei Wirtschaftsliberalismus hätte ich mehr erwartet. Der Diskurs bleibt im Allgemeinen und sehr abstrakt, man hätte auch mehr Beispiele nehmen müssen. Das fehlt bei eigentlich allen bis auf Gysi.

Wie erklären Sie sich die Friedlichkeit der Parteien?

Das hat zum Einen mit der Wirtschaftskrise zu tun, die in der Großen Koalition gemeinsam bekämpft wurde. So können weder SPD noch CDU heute sagen, sie würden alles anders machen.  Und zum Anderen hat es mit der politischen Kultur zu tun: Es geht sehr viel um Kompetenz und Sachlichkeit. Das hat man im Kanzlerduell gesehen, da blieb die Diskussion immer sehr sachlich, es fehlte an Emotionen, Bildern und Symbolen. Vielleicht wagt man wegen der deutschen Vergangenheit nicht, populistisch oder emotional zu punkten.

Es fehlen also die strittigen Themen.

Was mich sehr erstaunt ist, dass es in dieser Debatte gar nicht so sehr darum geht, was nach der Wahl kommt. Die Krise ist ja schon ein Jahr alt, und auch wenn es langsam wieder aufwärts geht, kommt erst Morgen die schmerzhafte Entscheidung, wie der Haushalt saniert werden soll, durch Kürzungen oder Steuererhöhungen. Es gibt offenbar einen Konsens, diese schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen. 2005 hat die CDU das gemacht und fast verloren. Hier müssten die Journalisten die Kandidaten herausfordern und nachfragen, wie etwa Steuersenkungen finanziert werden sollen. Westerwelle sagt, das würde die Wirtschaft ankurbeln und sich dadurch refinanzieren, aber weiß seit Reagan 1981, dass das nicht funktioniert. Aber auch die SPD sagt nicht, wie es weitergehen soll, die Grünen mogeln sich um das Thema herum, und Merkel ist ebenfalls in der Defensive und hat Angst, den Wahlsieg noch zu verspielen.

Ist dieser Konsens-Wahlkampf typisch deutsch?

In Deutschland herrscht Konsens: Die Krise ist von außerhalb gekommen, es gibt zwar strukturelle Probleme, aber keine Schuldzuweisungen, nur bei den Linken findet man das. In Frankreich gibt es Versuche, die Schuld für die Krise auf nationaler Ebene anderen zuzuschieben: Weil angeblich Sarkozy und seine Vorgänger Deregulationspolitik betrieben haben.

Würden Franzosen Merkel oder Steinmeier wählen?

Ganz bestimmt nicht! Wobei in Frankreich im Grunde genommen Wahlen wie in Deutschland gewonnen werden: Man verspricht viel, das man hinterher nicht einhalten kann. Nur populistischer. Diese Bescheidenheit der beiden Kandidaten, das wäre in Frankreich unmöglich. Ein aufgeblähtes Ego ist sogar beliebt. Man sucht jemanden, der entscheiden kann, der durchsetzungsfähig ist und viel verspricht, das hat damit zu tun, dass der französische Präsident viel allein entscheiden kann, in Deutschland müssen die Politiker zusammenarbeiten und konsensfähig sein. Das erzeugt dann verschiedene politische Kulturen.

Mit welchen Themen könnte Steinmeier noch punkten?

Ich würde auf die Ängste abzielen, dass die FDP oder Schwarz-Gelb den Sozialstaat abbauen oder Steuern nur für die obere Schicht senken wollen. Das Problem ist, dass die SPD mit Hartz IV Reformen gegen den kleinen Mann gemacht hat, das muss sie jetzt anders machen. Und Steinmeier hat das alles mit entschieden. Daran wird die SPD noch lange zu knabbern haben.

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Die Wahl im internationalen Blick http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-wahl-im-internationalen-blick http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/#comments Thu, 24 Sep 2009 11:17:15 +0000 Lu Yen Roloff, Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3384 GruppeWahlbeobachter bei GregorGysi

Foto: Jörn Neumann

HALLE. Wir von der Wahlfahrt09 sind nicht die einzigen, die im Vorfeld der Bundestagswahl durch das Land reisen. Von unserer vorletzten Station Magdeburg machten wir einen kleinen Abstecher nach Halle, um dort ein internationales Wahlbeobachterteam zu treffen, das im Auftrag des Deutschen Akademischen Auslanddienstes unterwegs ist: 18 Wissenschaftler aus 18 Ländern, Politologen und Historiker mit dem Spezialgebiet Deutschland. Sie sind in Halle, um dem Wahlkampfabschluss der Linkspartei beizuwohnen und Gregor Gysis Rede zu hören. In den Tagen zuvor hörten sie bereits Renate Künast und Guido Westerwelle, den Wahltag erleben sie in Berlin – und werten dann die Reise gemeinsam aus. Vorab gaben uns die Wissenschaftler aus der Türkei, den Niederlanden, Frankreich, Argentinien, Polen und den USA schon eine kurze Zwischenbilanz ihrer Beobachtungen vor ihrem jeweiligen Hintergrund.

]]> http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/die-wahl-im-internationalen-blick/feed/ 0 „Der Europagedanke ist in Deutschland in der Krise“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eder-europagedanke-ist-in-deutschland-in-der-krise%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 10:23:35 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3378 RuchniewiczFoto: Jörn Neumann

HALLE. Krzysztof Ruchniewicz ist Professor für Zeitgeschichte am Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw und beschäftigt sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen und Fragen der Europäischen Integration. Er koordiniert auch das deutsch-polnische Schulbuchprojekt, das Frank Walter Steinmeier als Außenminister angestoßen hat.

„Ich spreche hier viel über die deutsch-polnische Nachbarschaft und unser Verhältnis. Die NPD macht in deutschen Städten an der polnischen Grenze einen stark polenfeindlichen Wahlkampf. Jede polnische Zeitung, jedes polnische Medium berichtet darüber. Die Empörung ist groß, dass die deutschen Gerichte entschieden haben, dass diese Plakate nicht abgehängt werden dürfen. Gleichzeitig wird in der polnischen Presse aber betont, dass es nicht nur eine polnische Gegenreaktion auf diese Plakate gibt, sondern auch auf der deutschen Seite Initiativen entstehen, die sich dagegen wenden. Das bemerkt selbst die nationalkonservative Presse. Es herrscht eine größere Sensibilität auf beiden Seiten vor, und das zeigt, dass das nachbarschaftliche Verhältnis besser geworden ist.

Komisch ist jedoch, dass die Deutschen im Wahlkampf das Thema Europa nicht ansprechen. Polen wurde von Deutschland beim Natobeitritt und beim EU-Beitritt sehr unterstützt. Nun scheint eine Krise eingetreten zu sein, weil man nicht weiß, wie es in Deutschland mit dem Europa-Gedanken weitergehen soll. Was bedeutet das für Deutschland, sind da alle europäischen Fragen erfüllt, oder gibt es neue Fragen, die uns in der Zukunft stärker beschäftigen? Zum Beispiel der Klimaschutz oder die Frage der Energie. Es wäre wichtig, dass man dieses Thema nicht auf das deutsch-russische Verhältnis reduziert, sondern als eine gemeinsame Frage für die Europapolitik begreift. Stellt Deutschland die europäische Perspektive jetzt zurück und handelt stärker bilateral? Eine Fülle von Fragen, die in diesem Wahlkampf nicht thematisiert werden.

Mir fällt auch auf, dass sehr viele Menschen unzufrieden sind, sie bezeichnen etwa Zeitarbeit als verdeckte Arbeitslosigkeit, sprechen über HartzIV. Diese Themen irritieren die Leute. Manche kritisieren den Verfall der Werte, die Diskrepanz zwischen dem, was Politiker sagen und dem, was sie tun. Das hört man, wenn man am Biertisch sitzt und ein bißchen plaudert. Eine Partei wie die Linke, die sich um solche Themen kümmert, hätte in Polen aber keine Chance. Das hängt mit unserer Geschichte des Postkommunismus zusammen, man hat gelernt, kritisch auf die kommunistische Vergangenheit zu sehen, und da kann man nicht die Augen vor verschließen. Die Linke hatte bei uns in den letzten Jahren keinen großen Zulauf.

Wir Polen beneiden dieDeutschen um ihr Sozialsystem, angefangen von der ärztlichen Versorgung bis hin zur Arbeitslosenversorgung. Das haben wir noch nicht erreicht.“

Der Amerikaner – “Die Deutschen lieben Obama, aber hassen Amerika”

Der Holländer – “Den Niedergang der Volksparteien haben wir schon hinter uns”

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Tagebuch: Die letzte Stunde in Halle http://www.wahlfahrt09.de/tagebuch/die-letzte-stunde-in-halle/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-letzte-stunde-in-halle http://www.wahlfahrt09.de/tagebuch/die-letzte-stunde-in-halle/#comments Tue, 18 Aug 2009 14:44:16 +0000 Kathleen Fietz http://www.wahlfahrt09.de/?p=678 Halloren_600x320

Foto: Sylie Gagelmann

Wer in unserem Team aus Ost- und wer aus Westdeutschland  kommt, ist einfach feststellbar: Wer die Hallenser Hallorenkugel nicht kennt, outet sich als Wessi. Kein Kind des Ostens ist an den kleinen gefüllten Pralinen vorbei gekommen.

Gestern aufregende Stunden, als Polizei auf dem Marktplatz anrückt. Immer mehr Menschen versammeln sich auf den Stufen vor dem Rathaus, an der S-Bahnstation und an den Seiten. Wir erfahren, dass Neonazis einen “Hessmob” zu Ehren von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß geplant haben. Doch viele junge Hallenser sind mit Wasserbomben, Flugblättern und Konfetti angerückt, um sie zu vertreiben. Um acht Uhr abends taucht die Abendsonne den Platz in warmes Licht und es wird klar: Die Neonazis haben sich nicht getraut. Gleiches ist übrigens in Görlitz passiert, erfahren wir von unserem Bekannten Stefan Steingräber. Die Wahlfahrt09 gratuliert beiden Städten!

Jetzt sitzt die Redaktion unter dem Sonnenschirm und kommt trotz Gästen zum Texteschreiben. Denn die Hallenser, die mit am Tisch sitzen, unterhalten sich miteinander. Ein älterer CDU-Wähler diskutiert mit einem Studenten. „Ich hab gestern nur auf Corax (ansässiger freier Radiosender, Anm. d. Red.) gehört, dass die CDU immer noch kein Wahlprogramm hat und dadurch auch nicht angreifbar ist“, sagt der Student, der noch nicht weiß, ob er die Grünen oder die Piratenpartei wählen soll. „Die Grünen waren die Ersten, die etwas für Umwelt viel getan haben, das fand ich gut. Diese Kelly damals wollte keine große Partei haben, keine Banken gründen. Und heute sind sie genau so machtgeil wie die anderen“, sagte der ältere Hallenser.

Unsere Abfahrt naht und so arbeitet die Wahlfahrt auf Hochtouren: Lena schneidet ihr Interview mit der SPD-Bürgermeisterin der Stadt, Ulrike bloggt, Lu Yen gibt ihrem Text über die NPD in Görlitz den letzten Schliff. Fotograf und Fotografin entdecken mit ihren Kameras noch unbekannte Ecken der Stadt und unser VJ Christian hat sich für den Filmschnitt in den schattigen Bauwagen verzogen. Gleich wird gepackt und dann geht’s auf ins bayerische Hof, wo die Ost-West-Diskussionen wohl nun langsam versiegen werden. Auch mal wieder ganz gut.

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“Es gibt keine einfachen Lösungen” http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/es-gibt-keine-einfachen-losungen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=es-gibt-keine-einfachen-losungen http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/es-gibt-keine-einfachen-losungen/#comments Tue, 18 Aug 2009 13:59:48 +0000 Lena Gürtler http://www.wahlfahrt09.de/?p=1218 HALLE. Manchmal genügt es, nur aus dem Wahlfahrt09-Bauwagen zu steigen, um dabei zu sein: Pressetermin auf dem Hallenser Marktplatz. Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados (SPD) präsentiert ihr neuestes Projekt. Seit 19 Jahren arbeitet sie als Bürgermeisterin in Halle, 2007 wählten sie die Hallenser zur Oberbürgermeisterin. Ihr Credo: Politik und Wirtschaft müssen zusammenarbeiten.



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„Wir müssen unseren Hintern hochkriegen“ http://www.wahlfahrt09.de/menschen/wir-mussen-unseren-hintern-hochkriegen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wir-mussen-unseren-hintern-hochkriegen http://www.wahlfahrt09.de/menschen/wir-mussen-unseren-hintern-hochkriegen/#comments Tue, 18 Aug 2009 13:27:03 +0000 Kathleen Fietz http://www.wahlfahrt09.de/?p=1291 Halle_Kaufhaus_quer

Foto: Michael Bennett

HALLE. Wie viele ostdeutsche Städte hat auch Haale an der Saale mit Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsrückgang zu kämpfen. Das zu ändern, ist Janis Kapetsis Mission: Mit Jazz, einem Bürgerverein und einem Designkaufhaus.

Mit staubigen Schuhen läuft Janis Kapetsis durch die große Eingangshalle. Dunkel und ein wenig feucht ist es in dem über hundert Jahre alten Kaufhaus. Von den Decken hängen Tapeten in langen dünnen Fetzen, das Bild erinnert an Tropfsteinhöhlen. Trotz Staub und blättrigen, mit Graffiti besprühten Wänden ist die einstige Schönheit des Jugendstilbaus noch zu erkennen: Lange Säulen reichen von der großen Eingangshalle bis hinauf zu dem gläsernen Kuppeldach, das aus DDR-Zeiten noch zugeklebt ist.

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Foto: Michael Bennett

„Halle hat ein unglaubliches kreatives Potential, wir wollen das hier bündeln und kommerziell vermarkten“, sagt Janis Kapetsis, als er eine morsche Holztreppe nach oben steigt. Das marode Kaufhaus hat der 44-Jährige zusammen mit einem Geschäftspartner Anfang dieses Jahres ersteigert. Ein Design-, Kultur- und Medienkaufhaus wollen sie daraus machen. Die kreative Szene Halles sitzt vor allem an der Kunst- und Designhochschule Burg Giebichenstein, an der auch Kapetsis 1985 bis 1990 Design studiert hat.

Was klingt wie ein ambitioniertes Kunstprojekt, ist eine Geschäftsidee, mit dem Unternehmen in die Innenstadt gelockt werden sollen. Design- und Modeläden mit Wellnessangeboten und Lounge im Erdgeschoss, Firmen aus der Medien- und Designbranche in den oberen Galerien – so der Plan. Janis Kapetsis, Cabrioletfahrer, braungebrannt, sportlich, mit Dreitagebart und kurzen Haaren ist ein dynamischer Geschäftsmannes durch und durch. Erfolgreich und zudem überall in der Stadt engagiert: Als sich Leipzig als Olympiastadt bewarb, war er Marketingbeauftragter für den Co-Standort Halle, er sponsert die Hallensischen Basketballfrauen, die in der ersten Bundesliga spielen, und seine Agentur kreiert die aktuelle Werbekampagne des ansässigen Stromanbieters.

Janis Kapetsis Vater kam Anfang der 50er Jahre nach Halle. Er gehöre zur so genannten verlorenen Generation Griechenlands, erzählt der Sohn. Partisanen hatten im Bürgerkrieg Tausende von Kindern in sozialistische Länder verschickt. Mit seinem Vater kamen zwanzig andere Griechen nach Halle, deshalb gab es in Kapetsis Schule auch Griechischunterricht. Ein Produkt designte Kapetsis noch für die DDR-Produktion, bevor die Wende kam: Einen Gepäckträger für den Fahrradhersteller Mifa, der 1988 eine Silbermedaille auf der Leipziger Messer gewann. Produziert wird der heute noch, aber Geld verdient der Hallenser damit nicht, er hatte versäumt das Ost-Patent in Westdeutschland rechtzeitig anzumelden. „Ich bin halt ein doofer Ossi gewesen“, kokettiert er.

Die Wende verstand der zielstrebige Hallenser nicht als Karrierebruch, sondern als Chance. Als selbständiger Designer entwarf er Restaurants und Schlafwagen für russische Hochgeschwindigkeitszüge. 1997 gründete er seine eigene Agentur „Kappa“ und spezialisierte sich auf Kommunikationsdesign, er arbeitet heute vor allem für Unternehmen aus der Immobilien- und Versorgungswirtschaft in ganz Deutschland. Seit drei Jahren betreibt der dreifache Vater zudem mit einem Partner einen Internethandel für hochwertige Designprodukte.

„Und da hinten könnte man dann…“, sagt Kapetsis und zeigt ans Ende der großen Eingangshalle des Kaufhauses. Er führt den Wirtschaftsanwalt Wolfgang Matschke durch das Gebäude, da sich einer seiner Mandanten dafür interessiert. „Kapetsis ist einer der kreativsten Köpfe dieser Stadt. Und er ist gleichzeitig ein guter Geschäftsmann und das gibt es selten“, sagt Matschke, der früher Kanzler der Universität war.

Die beiden gehen vom Kaufhaus aus über den nahe gelegenen Universitätsplatz. Eine große Freitreppe führt zu den im 19. Jahrhundert entstanden Universitätskomplex, daneben das neu gebaute, verglaste Audimax. Dazwischen schlängeln sich enge Gassen mit kleinen Häusern aus der Barock- und Renaissancezeit, zwischen die immer wieder Plattenbauten gesetzt wurden. „Kuschelig, kleinbürgerlich und auch proletarisch und dann die Hochkultur und Wissenschaft – das ist Halle“, sagt Kapetsis. Händel ist in der Stadt geboren, die Gelehrtengesellschaft der Leopoldina und die Franckesche Stiftungen haben ihren Sitz hier in der Saalestadt. „Halle ist die verkannteste Stadt Deutschlands, wir brauchen Botschafter wie Kapetsis“, sagt Matschke.

Was man von dem schönen zentralen Universitätsplatz aus nicht sieht, ist Halle-Neustadt, wo Erfolgsgeschichten wie die von Kapetsis eher nicht zu finden sind. Bis 1990 eine eigenständige Industriestadt um die Chemiewerke Leuna und Buna Schkopau ist die ehemalige Arbeiterstadt heute vor allem von Leerstand und Arbeitslosigkeit gezeichnet. 1990 wurden Halle und Halle-Neustadt zusammengelegt. Von den mehr als 300 000 Einwohner zu Wendezeiten sind heute nur noch 232 000 übrig.

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Foto: Michael Bennett

„In Halle ist Anfang der 90er Jahre nichts passiert, um wieder Wirtschaft anzusiedeln. Das macht mich heute noch sauer“, sagt Kapetsis und zum ersten Mal verschwindet sein Lächeln. Deshalb gründete er vor sechs Jahren den Bürgerverein „Wir für Halle“ mit, der es dann mit drei Sitzen in den Stadtrat schaffte. Doch auch mit politischer Teilhabe konnte er weniger als erhofft bewegen. „Es ist wie auf Bundesebene: Durch die vielen kleinen Parteien und Bürgervereine dauern Entscheidungsprozesse unheimlich lange und kreative Ideen werden oft abgeschmettert“, erklärt er. Eine solche Idee war etwa, freie Bauflächen an Investoren zu verschenken und an die Schenkung eine Bauverpflichtung zu koppeln, um Unternehmen in die Region zu locken.

Zurück in der Agentur. Mit seinen Angestellten sitzt Kapetsis in der Küche, jeden Tag kocht jemand für die gesamte Crew. Elf Festangestellte arbeiten derzeit in der Agentur, sein Internethandel verzeichnet trotz Wirtschaftskrise Umsatzzuwächse. Als mittelständigen Unternehmer ärgern ihn die politischen Rettungsaktionen großer Banken und Wirtschaftsunternehmen. „Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Große marode Unternehmen werden gerettet, obwohl sie Fehler gemacht haben und die machen die kleinen ehrlichen Mittelständler kaputt“, beklagt er sich und fordert Steuererleichterung als Anerkennung für solides Wirtschaften. Bei der Bundestagwahl wird der klassische Wechselwähler diesmal der CDU seine Stimme geben. „Eine Medienkanzlerin ist Angela Merkel nicht, aber ihr rationales Denken ist mir wichtiger“, erklärt er die Entscheidung.

Inzwischen ist Kapetsis von vielen Ämtern zurückgetreten, engagiert sich aber nach wie vor in der Stadt. So etwa mit dem ersten europäischen Frauen-Jazzfestival, das er seit fünf Jahren mitorganisiert. Eine Kneipenidee mit zwei Freunden, Kapetsis hatte damals kaum Ahnung von Jazz. Inzwischen kommen jährlich bis zu 4000 Besucher zu dem Event. Jetzt fordert er vom Land finanzielle Unterstützung. „Wir haben gezeigt, dass man so etwas mit privatem Engagement stemmen kann. Jetzt nützt es dem Land und deshalb sollen die jetzt mit ran“, erklärt er.

Kapetsis steht auf dem Dach seines Kaufhauses. Er hofft, es 2011 zu eröffnen; in diesem Jahr wird in den baufälligen Räumen noch eine große Kunst- und Designausstellung stattfinden. „Wir müssen unseren Hintern hochkriegen, müssen einfach besser sein als andere und mit innovativen Ideen Touristen und Unternehmen begeistern“. Wie oft, wenn Kapetsis das Wort „wir“ benutzt, ist nicht ganz klar, ob er gerade die Kunstszene, die Hallensischen Unternehmer oder Politiker oder die ganze Stadt Halle meint. Denn für ihn gehört das alles zusammen.

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Foto: Michael Bennett

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