Wahlfahrt09 » Grüne http://www.wahlfahrt09.de Mon, 03 May 2010 15:28:35 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.2.1 Wahlfahrt09 – das war’s http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wahlfahrt09-das-wars/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wahlfahrt09-das-wars http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wahlfahrt09-das-wars/#comments Mon, 28 Sep 2009 13:29:07 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3404

20090928_wahlfahrt09_reichstag

Foto: Jörn Neumann

DEUTSCHLAND. Deutschland vor der Wahl jenseits der politischen Ballungszentren erleben – die Wahlfahrt09 reiste in 50 Tagen durch 20 Orte im Norden, Süden, Osten und Westen Deutschlands: Dabei führte die Tour über Eisenhüttenstadt hinunter nach Konstanz, über Leidingen nach Duisburg-Marxloh, in den hohen Norden nach Breitenfelde und Wismar, übers Wendland und schließlich nach Haldensleben in der Börde.

Am Wahlfahrt09-Stand zwischen den Fachwerkhäusern der Altstadt Haldensleben. Wochenlang haben wir gewartet, um 18 Uhr sind die Prognose und die ersten Hochrechnungen da: Mehrheit für Schwarz-Gelb. Ein Passant mit Sonnenbrille und Eishörnchen kommentiert: “Also ich hab die nicht gewählt.” Auch das Team der Wahlfahrt09 ist überrascht – denn Menschen, die CDU und FDP nahe stehen, haben wir auf unserer 50-tägigen Reise durch 20 Orte kaum getroffen.

Ein Rückblick auf einen Wahlkampfbesuch auf dem Heumarkt in Köln vor zwei Wochen: An diesem Abend wird Steinmeier auftreten, schon am frühen Nachmittag prangt der überdimensionale SPD-Würfel auf dem leeren Platz. Die Volkspartei gibt sich modern und interaktiv: Die Jusos haben junge Frauen angestellt, die andere Frauen mit einem „Ich kann Aufsichtsrat“-Schild fotografieren. An einem Touchscreen lassen sich personalisierte Wahlkampfprogramme ausdrucken. Eine Hartz-IV-Empfängerin humpelt über den Platz. Nach zwei Bandscheibenvorfällen kann die ehemalige Fleischerin nicht mehr arbeiten. Sie will sich Steinmeier nicht ansehen, denn die Politiker, sagt sie, lügen doch alle.

Viele sehen keine Perspektive mehr

„Wir dürfen das Ziel der Vollbeschäftigung nicht aufgeben“, tönt Steinmeier am Abend auf dem Höhepunkt seiner Wahlrede. Es wirkt antrainiert, ein reiner Slogan. Selbst Stammwähler der Partei, die in einer Kneipe am Rand sitzen, überzeugt das nicht. In ganz Deutschland gibt es zur Zeit 3,47 Millionen Arbeitslose, Tendenz steigend. Die Schaffung von Arbeitsplätzen steht in jedem Parteiprogramm – bei einigen auch gemeinsam mit dem kleinen Bruder der Vollbeschäftigung, dem Mindestlohn. Menschen wie die Fleischerin treffen wir oft auf der Wahlfahrt: Die sich von niemandem repräsentiert fühlen, die vieles verloren haben, die keine Perspektive mehr für sich sehen.

In Wismar sind durch die Schließung der Werft 1200 Menschen in Kurzarbeit. In Halle hat der Strukturwandel ganze Stadtteile entvölkert. Die Krise findet sich sogar in wohlhabenden Kommunen wie Konstanz – dort waren in diesem Jahr die Campingplätze ausgebucht, weil viele Deutsche kein Geld mehr für den Auslandsurlaub haben. Selbst in Wiesbaden mit seiner hohen Millionärsdichte stehen die Arbeitslosen trotz öffentlichem Trinkverbot in den Seitenstraßen.

Deutsche Problemecken

In Duisburg-Marxloh, wo türkische Brautmodenläden viele deutsche Geschäfte verdrängt haben, bevölkern vor allem Deutsche die „Problemecken“ des Stadtteils. So nennt der dortige CDU-Bürgermeister Adolf Sauerland die deutschen Drogenabhängigen auf den Bänken am Marktplatz, die seit der Schließung der Fixerstube keinen Anlaufpunkt mehr haben. In der Marktklause gegenüber von unserem Stand sitzen schon früh morgens die Alkoholiker und trinken ihre Schnäpschen zu lauter 80er Jahre Schlagermusik. Zwischen denWahlkampfplakaten von Linkspartei und SPD hängen Schilder mit dem Slogan „Aufbau Duisburg statt Aufbau Ost“.

Diese Beobachtungen sind zum Teil natürlich auch dem Konzept der Wahlfahrt09 geschuldet: Wir parken an zentralen Plätzen der Stadt, arbeiten dort an Biertischen unter freiem Himmel. Natürlich treffen wir also vor allem Leute, die keinen Ort haben, an dem sie sein müssen: Arbeitslose, Rentner, Obdachlose. Ihre Probleme bekommen wir auf der Wahlfahrt09 besonders häufig mit. Viele sind unzufrieden: Sie bekommen zu wenig Rente, zu wenig Hartz IV, reden sich in Rage, werden laut, deuten mit Zeigefingern auf uns, wenn sie die Politiker beschimpfen, mal als Abzocker, mal als Lügner, mal als Verbrecher.

Aufbau Ost, Abbau West

Das ist 20 Jahre nach der Wiedervereinigung im Osten wie im Westen gleich. In Eisenhüttenstadt, wo seit der Wende tausende Arbeitsplätze verloren gegangen sind, wird gerade für 630 Millionen Euro ein neues Papierwerk gebaut, gefördert mit Mitteln der EU – ein Tropfen auf den heißen Stein, gerade mal 600 neue Arbeitsplätze sollen entstehen. Im niederfränkischen Hof leiden die Betriebe unter der Konkurrenz aus dem Osten, die noch gefördert wird – während im Westen, wo nichts zu fördern ist, das Problem der Arbeitslosigkeit viel stärker zu Tage tritt.

Dort lässt sich die Arbeitslosigkeit noch nicht einmal mit dem Versagen des Sozialismus erklären. Unsere Reise macht deutlich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen und die Verwerfungen in der internationalen Arbeitsteilung viel weiter reichen, als es die Deutschen wahrhaben wollen. Mag sein, dass Deutschland Exportweltmeister ist, dass eine zukünftige Bildungsoffensive oder der Ausbau regenerativer Energien und grüner Technologien zukünftige Generationen beschäftigen wird – aber Hunderttausende sind im Hightechland überflüssig geworden. Sie sitzen jetzt in den Problemecken, lungern vor dem Supermarkt herum, sammeln Flaschen und durchwühlen Mülleimer.

Engagement und Gesicht zeigen

Doch es gibt auch Lichtblicke: Es kommen viele engagierte Menschen zum Wahlfahrt09-Stand. Sie arbeiten ehrenamtlich für Bürgerinitiativen, den städtischen Sicherheitsdienst in Görlitz oder als Sporttrainer im Wismarer Kanuverein. Menschen, die sich für konkrete Anliegen engagieren: Der Rentner, der sich für das deutsch-polnische Verhältnis in der Grenzstadt Görlitz-Zgorzelec einsetzt und gegen die NPD Gesicht zeigt; der Azubi, der in seiner Freizeit im Bürgerradio die Spitzenkandidaten des Landtags interviewt oder die Studenten vom Postkult e.V. in Halle-Glaucha, die mit einem Gemeinschaftsgarten gegen den Leerstand in ihrem Stadtteil ankämpfen und die Bürger dort wieder zusammen bringen wollen. Viele von ihnen sind Bildungsbürger, Rentner, Akademiker und Studenten.

Auf eine Bewegung der sozial Schwachen treffen wir aber nicht. Ein LKW-Fahrer, den wir auf einem Rastplatz trafen, drückte es so aus: „Wir könnten ja mal demonstrieren gehen. Aber dafür geht es uns wohl noch nicht schlecht genug.“ Nur einige Hartz-IV-Empfänger in Wiesbaden machen den Gegenangriff auf die öffentliche Wahrnehmung: Die „Initiative neue soziale Gerechtigkeit“ plakatiert alle zwei Wochen die Stadt mit schwarzweißen Postern, auf denen sie von Schikanen, Demütigungen und rechtswidriger Behandlung von Hartz IV-Empfängern sprechen und die Mitarbeiter zuständiger Behörden namentlich anprangern. Mehrheitsfähig sind sie mit ihrem umstrittenen Vorgehen aber nicht.

Ganz besonders leise sind die Frauen. Wir sprechen Passantinnen gezielt an, weil von selbst immer nur die Männer kommen. Sie sagen zwischen den Zeilen, dass sie in der Krise Besseres zu tun haben als zu politisieren. Wer soll sich um Kinder und Haushalt kümmern, wenn die Männer auf den Straßen abhängen? Wie das Überleben sichern? Manch eine gesteht, dass es ohne die Lebensmittelspenden von der Tafel nicht ginge.

Afghanistan, Europa und Außenpolitik sind kein Thema

Wohl auch, weil die Bundeswehr ein sicherer Arbeitgeber ist, gibt es von den Menschen, die im Bundeswehrstandort Sigmaringen leben, kaum Kritik am Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Nur selten gab es so etwas wie grimmige Solidarität und Unterstützung für “unsere Jungs da unten”. Für viele junge Männer sind die Bonuszahlungen für Auslandseinsätze eine willkommene Einnahmequelle, auch wenn nur wenige wirklich vom Sinn des Einsatzes überzeugt sind. Afghanistan ist ein Thema, das weder im Wahlkampf noch in unseren Gesprächen an vorderster Stelle stand. So war es auch mit anderen außenpolitischen Fragen, etwa wie Deutschland sich innerhalb Europas positioniert.

Aus der Perspektive der ausländischen Wahlbeobachter, die wir am Rande eines Wahlauftritts von Gregor Gysi in Halle trafen, ist besonders die wichtigste Frage im Wahlkampf ausgeklammert worden: Wie die Wirtschaftskrise und das Arbeitslosenproblem eigentlich konkret gelöst werden sollen, sobald die Wahl vorbei ist. Der Franzose Jay Rowell wundert sich: „Es müssen schmerzhafte Entscheidungen getroffen werden, wie der Haushalt saniert werden soll, durch Kürzungen oder Steuererhöhungen.“ Offenbar gebe es einen Konsens, „diese schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen.“

Auch sein holländischer Kollege Ton Nijhuis wundert sich über den Wahlkampf: Wenn viele Menschen nicht daran glaubten, dass die Politik die Arbeitslosigkeit bekämpfen könne, werde das von den Wahlforschern als „Politikverdrossenheit“ interpretiert: „Ich würde sagen, das ist Realismus erwachsener Bürger, die genau wissen, dass man viele Versprechungen aus dem Wahlkampf nicht einhalten kann.“

Die Wahlfahrt09-Analyse

Gleichzeitig fischt Gregor Gysi auf dem Hallenser Marktplatz nach Proteststimmen: „Selbst wenn Sie Grüne oder SPD wählen wollen – wenn Sie wollen, dass diese Parteien wieder sozialere Politik machen, müssen Sie die die Linke wählen.“ Protest wählen scheint vielen Menschen die letzte Lösung zu sein: Linkspartei, NPD oder ungültig stimmen.

Die politische Stimmung im Land, das ist das Fazit der Wahlfahrt, ist stark abhängig von der ganz persönlichen Lebenssituation der Menschen. Die Grünen wählen diejenigen, die unter Flugschneisen und in der Nähe des Atommüll-Zwischenlagers in Gorleben wohnen.

Und so betrachten wir am Ende unserer Reise das Wahlergebnis aus der Perspektive unserer Gesprächspartner: Zwar hat die Koalition aus CDU und FDP genug Stimmen bekommen, um das Land zu regieren. Aber nimmt man die rund 30 Prozent Nichtwähler und die vielen Protestwähler zusammen: Dann stehen hinter diesem Wahlergebnis vor allem Millionen Deutsche, die ein Gefühl eint: Keine Wahl gehabt zu haben.

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Ohne mich http://www.wahlfahrt09.de/orte/landkreis-im-demokratischen-vorruhestand/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=landkreis-im-demokratischen-vorruhestand http://www.wahlfahrt09.de/orte/landkreis-im-demokratischen-vorruhestand/#comments Sun, 27 Sep 2009 21:25:09 +0000 Daniel Stender http://www.wahlfahrt09.de/?p=3514 BÖRDE. Im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt blieben 2005 mehr Wähler zuhause als sonst wo in Deutschland: 32 Prozent gingen nicht zur Wahl – aus Langeweile, Politikverdrossenheit, Protest und Verpeiltheit. Auch 2009 gibt es viele Wahlberechtigte, die nicht wählen wollen. Fünf Begegnungen mit Nichtwählern in der Kreisstadt Haldensleben.

Nein, er wird nicht wählen gehen, erklärt der gepflegte ältere Herr, der seinen Pudel zwischen den Reihenhäusern von Haldensleben spazieren führt. Er schickt sich an zu gehen – doch dann bricht es plötzlich aus ihm hervor: „Dieser Verbrecherstaat! Mit dem möchte ich nichts zu tun haben!“, schimpft er. „Von mir aus sollte man die Mauer wieder aufbauen!“ Zeternd zieht er von dannen – einer von vielen, die sich im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt in den demokratischen Vorruhestand verabschiedet haben. 2005 gab es hier mit 68 Prozent die bundesweit niedrigste Wahlbeteiligung. Und bei der Europawahl in diesem Jahr lag die Quote bei knapp 40 Prozent, weit über die Hälfte aller Wähler blieb also zu Haus. Und doch ist es auf den Straßen der Kreisstadt Haldensleben mehr als schwierig, einen Nichtwähler zu treffen, der bereit ist, seine Abstinenz zu erklären.

Bei 68% Wahlbeteiligung geht eben doch noch ein großer Teil der Bevölkerung zur Wahl. Und es scheint, als hätten die sich verabredet, um uns das vielfältige demokratische Haldensleben vorzuführen: Der freundliche Vater bei McDonalds, die ältere Dame am Wegesrand, der junge Mann, mit seinem aufgemotzten Auto, sie alle sind überzeugte Wähler, ausgestattet mit den besten Argumenten.

Aber wo sind sie dann, die Nichtwähler in Haldensleben? Warum wählen sie nicht? Und sind sie alle derart stereotyp-ostalgisch wie der Meckeropa mit dem Pudel?

„Ist doch egal, wen ich wähle“

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

„Politik interessiert mich herzlich wenig“, sagt die 18-Jährige Saskia Sperl, als wir sie nicht weit entfernt von den Reihenhäusern des Meckeropas treffen. Eigentlich ist sie die klassische Zielgruppe all der Kampagnen, die Jungwähler dazu bewegen wollen, die Bundestagwahl 2009 als ihr erstes Mal in Sachen aktiver Demokratie zu nutzen. Aber die Partei, die Saskia Sperls Interessen vertritt, müsste wohl noch gegründet werden: „Eine Partei wäre für mich dann wählbar, wenn sie Steuern, Praxisgebühr und hohe Benzinkosten abschaffen würde“, sagt sie. In der Schule hat sie mal ein Referat über die Grünen halten müssen: „Das war nicht so spannend, aber einiges war auch interessant“, erinnert sie sich. Generell ist sie der Meinung, dass sich durch Wahlen „eh nichts ändert. Ob ich wen wähle oder nicht, ist doch ganz egal.“ Für die angehende Bürokauffrau sind andere Sachen wichtiger: Am späten Samstagnachmittag ist sie gerade mit einer Freundin auf dem Weg in eine Eisdiele, am Sonntagmorgen will sie ausschlafen und den freien Tag genießen. Sagt sie und düst mit ihrem kleinen Auto davon.

„Im Grunde keine Wahl“

53 Jahre alt ist der Dachdecker, der am Rand einer malerischen Kleingartenanlage wohnt und gerade in seinem Hof vor sich hin werkelt. Seinen Namen möchte der Mann nicht nennen, auch will er nicht fotografiert werden. Nichtwählen scheint selbst in Haldensleben eine Sache zu sein, die man eher im Verborgenen tut: „Man wird schnell populär heutzutage“, sagt er skeptisch. Er will nicht wählen gehen, weil er der Meinung ist, dass er „im Grunde keine Wahl“ hat. Schließlich haben sich durch die Große Koalition beide Volksparteien einander inhaltlich angenähert; „Wähle ich die CDU, dann habe ich ein Übel, wähle ich SPD, dann habe ich es auch“, sagt er. Aber, betont er immer wieder, er sei kein unpolitischer Mensch, er informiere sich und habe sich seine Enthaltung gründlich überlegt: „Wenn ich am Wahlabend die Ergebnisse ansehe, dann habe ich ein ruhiges Gewissen. Denn egal, wer gewinnt, ich habe damit nichts zu tun.“

Drei große Fragezeichen auf dem Stimmzettel

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

Fernab der Schrebergartenidylle der Kreisstadt liegt die Hafenstraße – die Gegend hat in Haldensleben keinen guten Ruf. „Fragen Sie mal bei denen, die sich da hinter der Tankstelle an ihren Bierflaschen festhalten“, hören wir von den vielen engagierten Wählern und machen uns auf den Weg in die Schmuddelecke. Aber die Biertrinker hinter der Tankstelle wollen ihre Ruhe. Oder sie sind gar keine Nichtwähler. „NPD“, sagt einer und grinst. Wenige Schritte entfernt sieht Haldensleben schon wieder ganz anders aus: Im nahegelegenen Jugendclub findet ein Benefizkonzert statt, viele eher alternativ aussehende Jugendliche in Kapuzenpullovern treffen sich hier mit Freunden. Die 28-jährige Kate ist Sozialpädagogin, sie hat die Konzerte im Jugendclub mitorganisiert. „Ich sehe in dieser Parteienlandschaft für mich keine Alternative“, sagt sie. Daher will sie „drei große Fragezeichen“ auf ihren Stimmzettel malen und ihn so ungültig machen. „Aber meine Stimme wird so schon gezählt und kommt nicht der NPD oder irgendeiner radikalen Partei zugute“, erklärt sie. Kate geht also zur Wahl, aber nur, um ihrem Protest gegen die vorhandenen Wahlmöglichkeiten Ausdruck zu verleihen. In den letzten Jahren hat Kate an den Wahlen teilgenommen: „Irgendwann in meinem Leben werde ich schon mal wieder wählen gehen“, sagt sie. In diesem Jahr aber ist sie nur indirekt dabei.

Nicht wählen, weil unterwegs

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

„Wir sind zu Besuch bei unseren Schwiegereltern“, sagen B. Sonnabend und G. Bertram. Wir treffen das junge Paar (23 und 20 Jahre alt) mit ihrem neun Wochen alten Sohn vor einem Altersheim im Stadtteil Alt-Haldensleben, wo die Stadt langsam in die sanften Hügel der Bördelandschaft übergeht. Die beiden stammen aus Lehrte bei Hannover und können nicht wählen gehen, weil sie unterwegs sind. „Wir haben zwar die Unterlagen zur Briefwahl bekommen, aber ich habe die weggeworfen“, sagt B. Sonnabend – es habe eben niemand gewusst, fügt die junge Frau hinzu, dass sie ausgerechnet am 27. September nach Haldensleben fahren würden. Sonst wären sie mit Sicherheit zur Wahl gegangen. „Immerhin“, sagt G. Bertram, „die Schwiegereltern sind gerade unterwegs zum Wahllokal.“

„Politiker sind scheiße“

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

Vado Manuel darf an der Wahl gar nicht teilnehmen: Er hat keinen deutschen Pass. Wir treffen den 18-Jährigen vor dem Lidl im Industriegebiet von Haldensleben. Vado Manuel wartet hier mit seinem 17-jährigen Cousin, die beiden telefonieren, albern herum und verbreiten mit ihren weiten Baseball-Klamotten etwas Hip-Hop-Flair auf dem öden Parkplatz. „Politik sollte sich dafür einsetzen, dass auch Ausländer die gleichen Rechte haben wie Deutsche“, sagt Vado Manuel. Seit 16 Jahren wohnt Vado Manuel in Deutschland und hat noch immer keinen deutschen Pass, obwohl er zu seiner afrikanischen Heimat viel weniger Bezug hat als zu Deutschland. Zur Zeit macht er eine Ausbildung zum Koch – die Lehre macht Spaß, sagt er. Selbst wenn er an der Bundestagswahl teilnehmen könnte, würde er aber nicht mehr wählen gehen: „Politiker sind scheiße“, sagt er: „Die machen Versprechen, die sie nicht halten.“ Er hat lange gehofft, dass ihm die Politik einen Pass verschaffen würde. Nun würde er aber nicht mehr wählen gehen, selbst wenn er dürfte. Das erste Mal Demokratie fällt für ihn auf jeden Fall aus.

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„Die Leute stehen sehr still da und klatschen höflich“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9edie-leute-stehen-sehr-still-da-und-klatschen-hoflich%e2%80%9c/#comments Fri, 25 Sep 2009 16:28:00 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3466 Sabado

Foto: Jörn Neumann

HALLE.Hilda Sabato ist Professorin für Geschichte an der Universität Buenos Aires. Seit sie 2003 Fellow des Wissenschaftskolleg zu Berlin war, besuchte sie das Land regelmäßig. Unter anderem ist sie spezialisiert auf Wahlen und Wahlkampf.

„Bisher war das, was ich vom Wahlkampf mitbekommen habe, sehr langweilig. Es gibt kaum echte Themen, über die sich die Parteien streiten. Heute bei Gysi war das anders. Und ich denke, die Leute waren auch überzeugt. Das sind ganz andere Menschen, die hier in Halle im Publikum stehen. In München, als wir bei Westerwelle waren, trugen die Frauen alle elegante Kleidung. Die jungen Leute sahen gesund aus, die Männer waren gut angezogen. Eine reiche Stadt – und dort kam Westerwelle sehr gut an. Hier in Halle sieht man, dass es den Menschen nicht so gut geht. Und ich habe das Gefühl, Gysi spricht genau zu diesen Menschen.
Bei Künast hat es mir auch gut gefallen. Die Grünen waren alles sehr nette Leute, die überzeugt sind, dass die Dinge besser werden müssen. Ich denke, die Grünen kommen gut an bei Menschen, die Zeit zum Zuhören, Lesen und Nachdenken haben, ein weniger emotionaler Ansatz. Dagegen haben Guido und Gysi eher Slogans, sind eher emotional. Aber das ist auch ein Zeichen kleiner Parteien, dass ihre Botschaft stärker ist, indem sie zeigen, wie sehr sie sich von den Volksparteien unterscheiden.

Ich bin Historikerin und eines meiner Themengebiete ist Leadership, also die Führung von Bevölkerung. Aus argentinischer Warte interessiert mich auch, wie die Deutschen mit der Krise umgehen. Während es bei uns ein richtiges Machtvakuum gab, scheint es aus der Ferne, als habe Deutschland die Krise bislang gut gemeistert. Aber interessant ist doch, dass die Menschen hier bei den Veranstaltungen so ruhig sind. Sie klatschen höflich, aber das wars. Ich vermute, dass viele Leute nicht richtig betroffen sind und deswegen der großen Koalition dankbar sind. Das ist so das, was ich bei Gesprächen auf der Straße mitbekommen habe: Dass es wenig Streit gegeben hat in der Krise. Auf der anderen Seite beschweren wir uns, dass der Wahlkampf langweilig ist.

Es ist schon überraschend, wie ordentlich und zivilisiert dieser Wahlkampf abläuft. Selbst heute bei Gysi, wo gesungen und geschrien wurde und einige Plakate hochgehalten haben. Die Argentinier sind da viel temperamentvoller. Die Deutschen denken nicht, dass diese Wahl ihr Leben verändern wird. In Argentinien haben wir erst seit 20 Jahren eine Demokratie. Und wir denken jedes einzelne Mal, dass alle politischen Handlungen, insbesondere die Wahlen, unser Leben verändern können. Das ist zwar nicht so, aber wir denken es. Also reagieren wir sehr emotional auf Politik. Dazu kommt, dass es viele Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen in Argentinien gibt, die im Wahlkampf an die Oberfläche kommen. Auch das ist hier nicht so. Die Menschen hier stehen sehr still da und hören zu. Ich glaube trotzdem, dass die Botschaft ankommt.“

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„Niemand redet darüber, wie die Krise nach der Wahl bewältigt werden soll“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9eniemand-redet-daruber-wie-die-krise-nach-der-wahl-bewaltigt-werden-soll%e2%80%9c/#comments Thu, 24 Sep 2009 14:33:53 +0000 Malte Göbel http://www.wahlfahrt09.de/?p=3455 Foto: Jörn NeumannFoto: Jörn Neumann

HALLE. Jay Rowell ist seit 2001 Forscher in Politische Soziologie an der Centre National de Recherche Scientifique (CNRS). Er leitet seit 2007 das Strassburger Forschungsinstitut Groupe de Sociologie Politique Européenne (www.gspe.eu) und ist seit 2006 stellvertretender Direktor vom Centre interdisciplinaire de recherches et d’études sur l’Allemagne. Seine Forschung und Lehrtätigkeit betrifft die Soziologie des Staates, Politisierung und Studien über die Sozialpolitik in Europa und in der EU.

Viele Deutsche finden den Wahlkampf langweilig. Sie auch?

Ja, jeder spielt ziemlich defensiv. Mich erstaunt es besonders, dass gerade die kleinen Parteien nicht in die Offensive gehen. Dabei könnten sie gegenüber der großen Koalition so gut punkten.

Sie haben Westerwelle, Künast und Gysi gesehen – sind die nicht laut?

Westerwelle ist natürlich am lautesten, den habe ich gestern in München gesehen. Er hat von Steuersenkungen gesprochen, war aber nicht überzeugend: Es gab keine konkreten Aussagen, was er in einer schwarz-gelben Koalition machen wird. Es wurden alle Themen angesprochen, Bildung, Wirtschaft, die klassischen Themen der FDP, aber gerade bei Wirtschaftsliberalismus hätte ich mehr erwartet. Der Diskurs bleibt im Allgemeinen und sehr abstrakt, man hätte auch mehr Beispiele nehmen müssen. Das fehlt bei eigentlich allen bis auf Gysi.

Wie erklären Sie sich die Friedlichkeit der Parteien?

Das hat zum Einen mit der Wirtschaftskrise zu tun, die in der Großen Koalition gemeinsam bekämpft wurde. So können weder SPD noch CDU heute sagen, sie würden alles anders machen.  Und zum Anderen hat es mit der politischen Kultur zu tun: Es geht sehr viel um Kompetenz und Sachlichkeit. Das hat man im Kanzlerduell gesehen, da blieb die Diskussion immer sehr sachlich, es fehlte an Emotionen, Bildern und Symbolen. Vielleicht wagt man wegen der deutschen Vergangenheit nicht, populistisch oder emotional zu punkten.

Es fehlen also die strittigen Themen.

Was mich sehr erstaunt ist, dass es in dieser Debatte gar nicht so sehr darum geht, was nach der Wahl kommt. Die Krise ist ja schon ein Jahr alt, und auch wenn es langsam wieder aufwärts geht, kommt erst Morgen die schmerzhafte Entscheidung, wie der Haushalt saniert werden soll, durch Kürzungen oder Steuererhöhungen. Es gibt offenbar einen Konsens, diese schmerzhafte Zukunft nicht anzusprechen. 2005 hat die CDU das gemacht und fast verloren. Hier müssten die Journalisten die Kandidaten herausfordern und nachfragen, wie etwa Steuersenkungen finanziert werden sollen. Westerwelle sagt, das würde die Wirtschaft ankurbeln und sich dadurch refinanzieren, aber weiß seit Reagan 1981, dass das nicht funktioniert. Aber auch die SPD sagt nicht, wie es weitergehen soll, die Grünen mogeln sich um das Thema herum, und Merkel ist ebenfalls in der Defensive und hat Angst, den Wahlsieg noch zu verspielen.

Ist dieser Konsens-Wahlkampf typisch deutsch?

In Deutschland herrscht Konsens: Die Krise ist von außerhalb gekommen, es gibt zwar strukturelle Probleme, aber keine Schuldzuweisungen, nur bei den Linken findet man das. In Frankreich gibt es Versuche, die Schuld für die Krise auf nationaler Ebene anderen zuzuschieben: Weil angeblich Sarkozy und seine Vorgänger Deregulationspolitik betrieben haben.

Würden Franzosen Merkel oder Steinmeier wählen?

Ganz bestimmt nicht! Wobei in Frankreich im Grunde genommen Wahlen wie in Deutschland gewonnen werden: Man verspricht viel, das man hinterher nicht einhalten kann. Nur populistischer. Diese Bescheidenheit der beiden Kandidaten, das wäre in Frankreich unmöglich. Ein aufgeblähtes Ego ist sogar beliebt. Man sucht jemanden, der entscheiden kann, der durchsetzungsfähig ist und viel verspricht, das hat damit zu tun, dass der französische Präsident viel allein entscheiden kann, in Deutschland müssen die Politiker zusammenarbeiten und konsensfähig sein. Das erzeugt dann verschiedene politische Kulturen.

Mit welchen Themen könnte Steinmeier noch punkten?

Ich würde auf die Ängste abzielen, dass die FDP oder Schwarz-Gelb den Sozialstaat abbauen oder Steuern nur für die obere Schicht senken wollen. Das Problem ist, dass die SPD mit Hartz IV Reformen gegen den kleinen Mann gemacht hat, das muss sie jetzt anders machen. Und Steinmeier hat das alles mit entschieden. Daran wird die SPD noch lange zu knabbern haben.

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Drei Generationen Grün http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/drei-generationen-grun/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=drei-generationen-grun http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/drei-generationen-grun/#comments Wed, 23 Sep 2009 18:24:11 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=3372

gruene_wendland08

Foto: Christian Salewski

WENDLAND. Im Wendland begab sich die Wahlfahrt09 auf Spurensuche nach der Geschichte der Grünen. Denn in der Gegend rund um Gorleben hat die Anti-Atombewegung seit drei Jahrzehnten eine feste Basis – und damit auch die Partei.

Marianne Fritzen kneift die Augen zusammen. Auf ihre Stirn legen sich Falten, als sie fragt: „Haben wir das Recht, diesen Müll zukünftigen Generationen zu überlassen?“ Es geht um den Atommüll im nur wenige Kilometer entfernten Zwischenlager in Gorleben. Die Frage ist reine Rhetorik, denn wirklich überzeugen muss sie hier niemanden: Eine Gruppe 18- bis 20-jähriger Freiwilliger im ökologischen Jahr sitzt an einem langen Tisch in der Scheune von Harrys Heuhotel in der Nähe von Lüchow. Dass sie alle gegen Atomkraft sind, ist selbstverständlich.
Die 20-jährige FÖJ-lerin Gesa Krone wurde schon als Kind auf die Demonstrationen im Wendland mitgenommen, das Fotoalbum der Familie zeigt die Eltern mit „Atomkraft, nein danke!“-Schild. Gut möglich, dass die Familie damals schon mit Marianne Fritzen zusammentraf. Wohl kaum jemand könnte die Geschichte des Wendlandes und der Grünen besser erzählen als die kleine 85jährige, die seit 36 Jahren gegen die Atomkraft kämpft.

gruene_wendland09

Foto: Jörn Neumann

Am Abend zuvor im Wohnzimmer von Fritzen. Auf den Sesseln am Fenster saßen schon Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin. Nun sitzen hier drei Generationen Grüne beieinander: Neben Fritzen Martina Lammers, die derzeitige Vorstandsvorsitzende der Grünen im Landkreis Lüchow-Dannenberg und ihre Tochter Ronja Thiede. Die Tochter ist 18 und schon seit zwei Jahren Mitglied in der Partei, daneben sitzt sie auch im Vorstand der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow Dannenberg e.V. (BI). Marianne Fritzen ist so etwas wie ihre politische Großmutter: Sie ist nicht nur die “Mutter der Bewegung”, sondern auch ein Gründungsmitglied der Grünen. Schon 1978 baute Fritzen die Vorläuferpartei “Grüne Liste Umweltschutz” mit auf, die ein Jahr später mit anderen sozialen Bewegungen in den Grünen aufging. Die neue Partei sollte einen Gegenpol zur atomfreundlichen SPD in den Parlamenten schaffen und den illegalisierten Widerstand auf der Straße politikfähig machen.

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Foto: Jörn Neumann

Als Fritzen die Grünen mitgründete, war Ronja noch nicht geboren. Aber sie kennt das Bild, das Fritzen ihrer Mutter geschenkt hat. Rot auf Gelb zeigt es den Moment im März 1979, bevor die damals 50-jährige Fritzen bei einer Blockade zum ersten Mal festgenommen wurde. Fritzen steht darauf mit ihrer Strickmütze etwas verloren einer Gruppe großer Polizisten in voller Montur gegenüber. Klare Machtverhältnisse könnte man meinen, wäre da nicht dieser Blick, mit dem Marianne Fritzen zu den Polizisten aufschaut. Ein Blick, der sagt: Was wollt ihr von mir? Das Foto wurde zu einem Symbol der deutschen Anti-Atombewegung, genauso bekannt wie das gelbe X, die lachende Atomsonne und der Gorleben-soll-Leben-Auto-Aufkleber. 1984 benutzten es die Grünen als Wahlwerbung. Ihr Slogan: „Demokratie braucht Luft zum Atmen“.

Im Wendland setzte die damalige Regierung gegen den Widerstand der damals hunderttausend Menschen starken Anti-AKW-Bewegung das “Erkundungsbergwerk Gorleben” durch. Seither sind elf Castortransporte durchs Wendland gefahren, jeder einzelne hat eine “sechste Jahrezeit” ausgelöst, wie die Gegner den Ausnahmezustand während der Demonstrationen und ihrer Vorbereitungen dort nennen.

Auch die 42jährige Martina Lammers ist seit den 1980er Jahren im Widerstand aktiv – und durch eigene Erfahrung überzeugt, dass im Parlament allein kein Ende der Atomenergie erreicht werden kann. „Wir haben hier keinen Respekt vor der Staatsgewalt, weil die uns friedliche Demonstranten mit Füßen getreten hat“, sagt die Frau mit der sanften Stimme. Lammers Augen werden bei solchen Sätzen schnell feucht, der Widerstand ist eine Herzensangelegenheit für sie: „Unsere Kraft kommt aus dem Wissen, auf der richtigen Seite zu stehen. Und die richtige Seite ist der Widerstand gegen eine Sache, von der wir alle wissen, dass sie falsch ist.”

Weil die Grundschullehrerin stets bei den Demonstrationen dabei war, die der Staat so heftig bekämpfte, blieb auch ihre Tochter Ronja schon als Teenagerin bei Blockaden so lange sitzen, bis sie weggetragen wurde. Jetzt ergänzt die 18jährige mit Blick auf das Plakat: „Die Polizeigewalt begleitet unsere Demonstrationen leider immer.” Solche Sätze gehen den Kindern, die im Wendland aufgewachsen sind, flüssig von den Lippen. 300 ihrer Mitschüler wurden beim vorletzten Castortransport von der Polizei stundenlang eingekesselt. Auch wegen dieser Erfahrungen ist sie heute bei den Grünen aktiv.

Dabei ist genau die Institutionalisierung der grünen Graswurzel-bewegung das Problem: In der Bewegung kann man noch konkrete radikale Forderungen aufstellen, in der Politik muss man lavieren und andere Interessengruppen berücksichtigen – wie die Grünen beim Atomkonsens, den die Wendländer Grünen nicht mehr mittrugen. Für Fritzen war der Wendepunkt erreicht, als die von ihr mitgegründete Partei im Jahr 2000 den Atomkonsens unterschrieb. Sie, die Ikone der Bewegung, trat aus.


Marianne Fritzen hat Grünen mitbegründet. Im Interview erläutert sie, was sie dazu bewegt hat, aus der Partei auszutreten. Von Lu Yen Roloff und Daniel Poštrak.

„Ich hatte damals das Gefühl, dass meine wesentlichen Gründe, in die Partei einzutreten, verraten worden waren”, erinnert sich Fritzen im Gespräch mit Lammers und Ronja, und ebenso noch einmal am nächsten Tag den FÖJ-lern in Harrys Scheune: “Der Pazifismus, die Forderung der Abschaffung von Atomenergie und der basisdemokratische Charakter der Partei. Und damit alles, wofür ich 30 Jahre gekämpft hatte.“ Fritzens Austritt markierte einen Riss bei den Wendländer Grünen. Sechs von sieben Kreistagsmitgliedern folgten ihr. Lammers blieb schweren Herzens in der Partei: „Ich hatte vier kleine Kinder – ich musste daran glauben, dass es möglich ist, weiterzumachen.“ Heute sind die Grünen wieder eine politische Kraft im Landkreis – auch weil die jüngeren Generationen um Lammers und ihre Tochter erneut den Widerstand mit dem Parlament verbinden.

Nur in einem sind sich im Wohnzimmer von Fritzen einig: Die Atomlobby verhindere, dass die Regierung den Willen der Bevölkerung umsetze – weil Energiekonzerne und Regierung bereits Milliarden in die Atomenergie gesteckt hätten, sei die Abkehr von der Energieform, für deren Abfälle es bis heute keine Lösung gibt, nicht erwünscht. So oder so ähnlich klingt die Kritik, die Fritzen an der Atompolitik der Regierungsparteien formuliert.

Dabei sieht sie sich von den jüngsten Vorfällen bestätigt: Ob in Asse, Morsleben oder Gorleben, bei den Störfällen in Brunsbüttel und jüngst in Krümmel – immer wieder traten in den letzten Monaten Informationen zutage, die Politiker, Wissenschaftler und Vertreter der Energiewirtschaft systematisch vor der Bevölkerung zurückgehalten hatten. Obwohl je nach Umfrage zwischen 60 und 80 Prozent der Bevölkerung gegen die Nutzung von Atomkraft sind, wird sie von CDU/CSU und FDP weiterhin befürwortet. In ihren Wahlprogrammen fordern die Parteien unter anderem das Ende des Moratoriums von 2001, das weitere Aktivitäten im Erkundungsbergwerk Gorleben einfror. Im Umfeld von Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) tauchte kürzlich ein Gutachten auf, das den Bau neuer Atomwerke nicht ausschließt. „Wir leben also in einer Scheindemokratie“, sagt Marianne Fritzen den Jugendlichen heute: „Zwar soll die Mehrheit entscheiden – aber diejenigen, die diese Mehrheit vertreten, lügen uns systematisch an.“

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Foto: Jörn Neumann

Martina Lammers und ihre Tochter Ronja stehen für den Nachwuchs der Grünen, die beides tun: Im Parlament sitzen und trotzdem auf die Straße gehen. Fritzen hat dagegen den Kampf gegen die Atomkraft wieder in die eigenen Hände genommen. In ihrem Privatarchiv recherchiert sie, was aus alten Verträgen geworden ist, welche ungenauen Begriffe es in der Atompolitik gibt. Dabei stieß sie kürzlich gar auf alte Verträge zwischen der Regierung und anliegenden Bauern über die Salzabbaurechte, die diese an das Erkundungsbergwerk abgaben.

Es war ein Fund von großer Tragweite. Die alten Verträge könnten das Ende von Gorleben bedeuten – selbst wenn das Moratorium, wie von CDU und FDP gefordert, direkt nach der Bundeswahl gekippt werden würde. Denn die Verträge von damals sind bis 2015 befristet, nur soviel Zeit bliebe zur „Erkundung“ eines möglichen Endlagers in Gorleben. Danach müsste jeder weitere Schritt über Enteignungen und Gerichtsprozesse gegen die Vertragsinhaber laufen – die Wendländer sind schließlich widerständig.

Auch im Heuhotel sind die FÖJ-ler bei einer Diskussion von Fritzens Austritt bei den Grünen angekommen. Für Fritzen ist die Partei „das kleinste Übel“, sagt sie: “Ich wähle sie heute immer noch, denn wenn man Mehrheiten in der Regierung will, muss man wählen.”

Auch die jungen Freiwilligen finden die Grünen ganz ok, sehen sie aber nicht als “politische Heimat”. Sie wollen Berufe ergreifen, die etwas mit Umwelt zu tun haben. Schließlich ist die Idee des Naturschutzes in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Und das Misstrauen gegenüber der Atomkraft inzwischen Konsens.

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Schwarze Bioenergie http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/schwarze-bioenergie/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=schwarze-bioenergie http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/schwarze-bioenergie/#comments Thu, 17 Sep 2009 12:37:58 +0000 Ute Zauft http://www.wahlfahrt09.de/?p=2973 Breitenfelde_Biogas-1

Foto: Milos Djuric

WENDLAND/BREITENFELDE. Weite Felder ziehen sich über sanfte Hügel. Am Straßenrand aufgereiht stehen Bauernhäuser aus rotem Klinker mit hell gestrichenen Holztüren. Doch die Idylle trügt: Der Strukturwandel hat diese Region Schleswig-Holsteins voll erwischt, die Landwirtschaft spielt in den meisten Dörfern kaum noch eine Rolle. Im Herzogtum Lauenburg setzt jetzt eine Kooperative aus fünf Bauern auf Bioenergie. Die Grünen wählen diese Bauern trotzdem nicht.

Hinter dem Dorf strecken sich zwei Kräne in den Wolkenhimmel, ein Betonmischer rotiert. Hier – mitten im Nirgendwo – entsteht ein kleines Kraftwerk. Der Stoff, aus der die Energie gewonnen wird: gehäckselter Mais und die Gülle der Kühe, die gleich neben der Biogasanlage grasen. Ab März 2010 soll sie die 170 Häuser des Nachbardorfes mit Strom und Wärme versorgen, und das alles CO2-neutral.

Tilmann Hack läuft in blauer Latzhose über die Baustelle, grüßt die Bauarbeiter: „Moin, moin! Alles klar?“ Kurz zuvor war er noch auf dem Feld, um Weizen zu säen, jetzt schaut er beim Aufbau der kreisrunden Fermenter vorbei. „Hier findet die Gärung statt: kleine Lebewesen zersetzen die Maishäcksel in Methan und in einen Gärrest.“ Der 46-Jährige hat sich eingearbeitet in eine für ihn neue Materie. Hack ist Bauer in der fünften Generation. Einst hat er von Milchkühen auf Schweine umgestellt, später auf den Ackerbau, je nachdem, wovon sich am besten überleben ließ. Mehr als die Hälfte seiner Bauernkollegen im Dorf haben die Landwirtschaft schon aufgegeben, doch Bauer Hack befindet sich seit diesem Frühjahr auf dem Weg vom Land- zum Energiewirt.

Sieben Biogasanlagen gibt es derzeit in seinem Landkreis, etwas weiter nördlich sind es schon mehr als dreimal soviel. 70 Prozent des deutschen Energieverbrauchs aus nachwachsenden Rohstoffen wird allein durch Bioenergie gedeckt. Durch die Gärung der Biomasse aus Mais oder Gülle entsteht Gas. Das Gas wird verbrannt, um Strom zu erzeugen, und die dabei freiwerdende Wärme direkt in die Häuser geleitet. Bioenergie gilt als CO2-neutral, denn bei der Umwandlung des pflanzlichen Materials in nutzbare Energie wird nur soviel Kohlendioxid freigesetzt, wie die Pflanzen während ihres Wachstums aufgenommen haben.

„Nachhaltigkeit“ ist ein Wort, das Bauer Hack häufig verwendet. So oft, dass man meinen könnte, er sympathisiere mit den Grünen. Aber er sagt: „Die wollen ganz Deutschland auf Bio umstellen, das kann nicht funktionieren!“ Tilmann Hack verschränkt die Arme über seinem Latzhosenbauch. Er wählt die CDU, wie die meisten seiner Kollegen. Das „kleinste Übel“ nennt er es. Denn im Grunde gebe es für ihn als Landwirt keine Partei. Befürwortet er als angehender Energiewirt nicht auch die Förderung alternativer Energie? „Die Regelungen, so wie sie jetzt sind, reichen für mich aus.“ Hack ist kein Umweltaktivist, sondern Geschäftsmann genug, um sich den veränderten Bedingungen anzupassen, ohne die Welt retten zu wollen.

SPD, Grüne und die Linken kündigen in ihren Wahlprogrammen an, die Energieversorgung so schnell wie möglich auf erneuerbare Energien umzustellen, CDU und FDP legen sich da nicht fest. Bioenergie – wie Bauer Hack sie mit seinen Kollegen produzieren wird – ist erneuerbar: die Rohstoffe wachsen schnell nach. Bleibt nur die Frage, ob auch die Produktion der Rohstoffe nachhaltig ist. Befeuert hatte diese Diskussion einst die Produktion von Pflanzenölen in Entwicklungsländern für deutsche Traktoren. Vor kurzem hat der Bundestag die Nachhaltigkeitsverordnung verabschiedet: Sie soll sicherstellen, dass künftig Biomasse nur unter Beachtung verbindlicher Nachhaltigkeitskriterien hergestellt wird. Derzeit ist jedoch noch offen, wie diese Kriterien genau aussehen. Hack hat da keine Bedenken: „Ich wirtschafte nachhaltig, sonst hätte ich den Hof gar nicht so lange halten können.“

Derzeit hat Tilmann Hack mehr mit den Bedenken seiner Nachbarn als mit gesetzlichen Vorschriften zu kämpfen. ‚Tilly, was macht ihr denn da? Wir wollen keine Monokultur!’, werde er oft gefragt. „Dann erkläre ich, dass wir mindestens 50 Prozent der Fläche weiter für Weizen, Raps und Gerste verwenden werden, Nahrungsmittel also.“ Eine Dorfbewohnerin am Straßenrand hat keine Bedenken gegen das Mini-Kraftwerk in ihrem Dorf: man müsse ja mit der Zeit gehen. Ihr Vater war Bauer, sie selbst wollte den Hof nicht übernehmen. „Hauptsache, es stinkt nicht“, schiebt sie noch hinterher und wendet sich wieder ihrem Blumengarten zu.

Direkt neben der Biogasanlage steht einer der wenigen noch aktiven Bauernhöfe Lüchows. Der Bauer hat die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen und übt nordische Zurückhaltung. Schweigen zur Biogasanlage, dann doch noch eine Erklärung: „DIE Pachtpreise steigen, weil der Flächenbedarf für den Mais viel größer ist.“ Sein Hof überlebt derzeit mit einer Mischkalkulation: 960 Mastschweine, den Rest des Einkommens muss er mit Brotweizen und Raps erwirtschaften. Wenn die Pachtpreise weiter steigen wird das bei den aktuellen Preisen immer schwieriger.

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Friede, Freude, Wahlsieg http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/friede-freude-wahlsieg/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=friede-freude-wahlsieg http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/friede-freude-wahlsieg/#comments Sun, 13 Sep 2009 12:21:48 +0000 Lena Gürtler, Ute Zauft http://www.wahlfahrt09.de/?p=3041 Foto: Milos Djuric

Foto: Milos Djuric

OSNABRÜCK. Krieg oder Frieden – ein hoch emotionales Thema, das nicht zum ersten Mal über Wahlsieg oder –niederlage entscheiden könnte. Nach der Linken versucht nun auch die SPD, mit ihrem Afghanistan-Papier ihr Friedensprofil zu schärfen. Nagelprobe für die Friedensrhetorik der Wahlkämpfer: Ein Besuch in der Hochburg der Friedensbewegung im niedersächsischen Osnabrück.

Eine Collage aus Zeitungsausschnitten: Schlagzeilen über Deutschland im WM-Fieber neben Bildern von ausgebombten Häusern im Libanon. Darüber legt sich ein halbtransparentes Muster aus Rottönen – erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es Gefangene in Guantanamo sind. Sylvia Lüdtke thematisiert in ihren Bildern die Gleichzeitigkeit von Krieg und Frieden. “Ein tiefes Friedenssehnen” treibt die Künstlerin an. Eine Sehnsucht, die sie mit einer ganzen Stadt teilt: In Osnabrück wurde 1648 der Dreißigjährige Krieg mit dem westfälischen Frieden beendet. Bis heute steht auf dem gelben Schild am Ortseingang “Friedensstadt.”

Allein 43 Organisationen beschäftigen sich in Osnabrück mit dem Thema Frieden. Zusammen mit ihren Kindern geht Sylvia Lüdtke auf die regelmäßigen Friedensdemos in der Stadt, protestiert dabei auch gegen einen Krieg, der in Deutschland offiziell nicht so genannt werden darf. Die deutschen Truppen in Afghanistan sind auf “Friedensmission”. Ein Thema, das die Osnabrücker umtreibt, gerade auch im Wahlkampf. An einer Autobahnabfahrt hat jemand quer über den FDP-Slogan “Raus aus Afghanistan” geklebt. Nicht unbedingt eine Forderung der Liberalen. Der Spruch klingt sehr nach der Linken. Die versuchen schon lange, mit dem Krieg am Hindukusch Wahlkampf zu machen.

Die anderen Parteien geraten in Zugzwang, müssen Position zu Afghanistan beziehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Frage um Krieg und Frieden die Wahl mitentscheidet: 2002 hat sich Gerhard Schröder durch sein “Nein” zu deutschen Truppen im Irak noch einmal auf den Kanzlersessel gerettet. In diesem Wahlkampf also Afghanistan, mit einem Unterschied: Deutsche Soldaten sind schon da, die Positionierung der Parteien wird dadurch ungleich schwieriger, ein Samthandschuh-Thema für die Parteien.

Anders die Osnabrücker. Sie suchen die Auseinandersetzung mit dem Thema. “Das Friedensthema ist ansteckend, Osnabrück ist ein friedensbewegter Ort”, sagt der Politikwissenschaftler Roland Czada. Er ist Professor an der Osnabrücker Universität und Leiter der Osnabrücker Friedensgespräche. Diese Veranstaltungen seien immer voll, in anderen Städten habe er das bei ähnlichen Themen ganz anders erlebt. Kürzlich hatte Friedensforscher Czada zu einer Diskussion über den Truppeneinsatz in Afghanistan geladen: “Das Thema wurde von den Osnabrückern viel kontroverser diskutiert als von den Parteien: Die fetzten sich wirklich: war es richtig, da reinzugehen oder zwingen wir uns den Afghanen auf?” Nach Meinung des Politikwissenschaftlers hat Steinmeier mit seiner Festlegung auf ein Abzugsdatum ab 2013 das einzig Richtige getan: “Er profiliert sich im Wahlkampf zunehmend auf dem Feld, für das er als Minister zuständig ist: die Außenpolitik.”

Die CDU hingegen bringe das Thema Afghanistan in die Bredouille, sagt Czada. Ihr Verteidigungsminister ist – wenn er überhaupt mal auftaucht – in Erklärungsnot. Wenn Soldaten tot aus Afghanistan nach Deutschland gebracht und gleichzeitig die Rufe nach Abzug noch lauter werden, darf Franz Josef Jung die Soldaten nicht einmal “Gefallene” nennen. Auf ein Ende des Einsatzes der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan will sich die CDU nicht festlegen. Der Einsatz am Hindukusch taugt für die CDU nicht dazu, Wahlkampf-Punkte in einem Land zu sammeln, in dem mehr als jeder zweite Bürger für einen schnellen Abzug ist.

Foto: Milos Djuric

Foto: Milos Djuric

Die überklebten FDP-Plakate sind eigentlich eine hervorragende Vorlage für die Wahlkampfrede von Guido Westerwelle an diesem Nachmittag in Osnabrück. Die Wahlkampfbühne ist vor dem Rathaus aufgebaut. Hier befindet sich der “Friedensaal”, in dem Katholiken und Protestanten den Dreißigjährigen Krieg beendeten. Überall in der Innenstadt verteilt: Rostrote Installationen, aus denen Apfel-Bäume wachsen. Sie erinnern an die Varus-Schlacht vor 2000 Jahren. Das Thema Krieg wird auch beim FDP-Chef vorkommen: Er spricht über die Abrüstung von Atomwaffen. Die Frage nach dem Truppenabzug aus Afghanistan lässt er geflissentlich beiseite.

“Für die FDP und die Grünen ist das Thema nur begrenzt wahlkampftauglich”, sagt Friedensforscher Czada. Die FDP wolle es sich nicht mit der CDU als mögliche Koalitionspartnerin verderben. Die Grünen wiederum haben als ehemals friedensbewegte Partei, den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan von Anfang an mitgetragen. Nicht selten werden sie von ihren Anhängern dafür angegriffen. Afghanistan ist für die Grünen ein Thema, das sie lieber nicht in die Schlaglichter des Wahlkampfes rücken wollen, so Czada. “Wenn eine Partei mit dem Thema Wählerstimmen holen kann, dann ist es die Linke.” Sie ist grundsätzlich gegen deutsche Soldaten im Ausland und scheint damit den Friedens-Nerv vieler Wähler zu treffen. “Grundsätzlich sehnen sich die meisten Menschen nach Frieden. Damit wird jede Diskussion um Afghanistan auch zu einer emotionalen Gradwanderung”, so der Friedensforscher.

“Ich habe Angst vor Krieg” oder “Wenn alle Herzen gleichzeitig im Takt für den Frieden schlagen würden, dann hätte man ein Erdbeben der Stärke sechs.” Das haben Ausstellungsbesucher in Sylvia Lüdtkes Friedensbücher geschrieben. Die Künstlerin fordert die Betrachter ihrer Bilder auf, ihre Wünsche und Gedanken niederzuschreiben. Das erste Mal hat Lüdtke die Friedensbücher in Osnabrücks türkische Partnerstadt Canakkale ausgestellt. Seitdem füllt sich Buch um Buch. Kunst gegen die eigene Furcht. Lüdtkes Vater ist Offizier: “Ich habe erst spät begriffen, dass mein Vater auch in den Krieg ziehen könnte. Das hat mir Angst gemacht.” Einen schnellen Abzug der Truppen aus Afghanistan hält sie trotzdem für zu riskant. “Abzug bedeutet noch kein Frieden.”

Ein Argument, um das auch die Linke im Wahlkampf eigentlich nicht herumkommen dürfte. Nur einen Tag nach Westerwelle hält Gregor Gysi vor dem Osnabrücker Rathaus eine Wahlkampfrede. Im Gegensatz zu seinem FDP-Widersacher fordert er vehement den Truppenabzug aus Afghanistan: Durch Kriegseinsätze könne man keinen Frieden schaffen. Applaus. Gysi und seine Partei sind die einzigen, die den Bundeswehreinsatz in Afghanistan als Krieg bezeichnen. Glück für ihre Wahlkampfstrategie: Denn nur wer von Krieg spricht, kann von Frieden reden und damit Wähler locken.

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TV-Duell: Erstwähler vermissen Klartext http://www.wahlfahrt09.de/menschen/tv-duell-erstwahler-vermissen-klartext/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=tv-duell-erstwahler-vermissen-klartext http://www.wahlfahrt09.de/menschen/tv-duell-erstwahler-vermissen-klartext/#comments Sun, 13 Sep 2009 11:30:32 +0000 C. Salewski http://www.wahlfahrt09.de/?p=2698 Osnabrueck_tvduell_jugendliche

Foto: Milos Djuric

OSNABRÜCK. Normalerwiese schauen sie gemeinsam Fußball. Doch im Fernsehen versuchen sich am Sonntagabend Kanzlerin und Kandidat an so etwas Ähnlichem wie Wahlkampf. In einem Wohnzimmer im Osnabrücker Westen sitzen vier gespannte Erstwähler. Und werden enttäuscht.

Von wegen politikverdrossen! Max ist 19 und durchaus politisch interessiert. Am 27. September wird er zum ersten Mal wählen. So wie seine drei Kumpels Jonas, Oskar und Pierre, die er ins Wohnzimmer seiner Eltern im Osnabrücker Westen eingeladen hat, um mal zu schauen, wie Kanzlerin und Kandidat sich im Fernsehen schlagen. Die vier Jungs machen es sich gemütlich. Füße hoch, ein Bier in die Hand. “Das ist ja wie beim Fußball-Gucken”, sagt Max. Aber erst muss der Sender bestimmt werden. Max zappt durch die Vorberichterstattung. Er entscheidet sich für ARD. “Der Unterschied in der Aufmachung ist voll krass. Bei den Privaten sieht das nach Entertainment aus.” Also öffentlich-rechtliche Solidität.

Die vier Abiturienten haben als Leistungskurs Politik gewählt. Sie wissen schon Einiges über die Themen und Farbenspiele, die in Berlin Konjunktur haben, auch wenn das politische Wissen noch ausbaufähig ist.

Vier Erstwähler, die langsam aber sicher ins politische Bewusstsein tappsen. Sie sind die perfekte Klientel. Jetzt können Merkel und Steinmeier ihnen beweisen, dass demokratischer Streit spannend und aufregend sein kann.

“Anpfiff!”, sagt Pierre. Steinmeier bei seinem ersten Statement. “Der hat echt eine Stimme wie Schröder”, sagt Max. “Aber er ist lange nicht so charismatisch”, wirft Jonas ein. Steinmeier redet von Anstand und Vernunft, die in die Wirtschaft zurückkehren müssten. Jonas beugt sich etwas zu Max rüber. “Das sind doch solche Phrasen.” Erste Enttäuschung.

“Ich finde, die antworten gar nicht, die hören gar nicht auf die Frage”, sagt Pierre. An den Politikersprech müssen sie sich noch gewöhnen. Und auch daran, dass Merkel und Steinmeier sich eher umarmen als sich zu duellieren.

Als Peter Kloeppel fragt, ob die Kontrahenten sich eigentlich duzen, lacht Jonas. “Voll die typische RTL-Frage”, sagt er. “Der will die halt mega-provozieren”, sagt Max. Pierre ergänzt: “Ja, die wollen die richtig gegeneinander aufhetzen.” Endlich die Chance auf ein bisschen Konfrontation im TV. Aber die Kanzlerin wirft ein Wattebällchen nach dem anderen. Kein Vergleich zu Stoiber gegen Schröder findet Max. Der Wahlkampf von 2002 war der erste, den er bewusst verfolgt hat, und die deftige demokratische Auseinandersetzung hat ihm Politik schmackhaft gemacht.

Dann, endlich, ein Thema, das Streit verspricht. Atomkraft. Steinmeier geht die Kanzlerin zum ersten Mal direkt an. Auch auf der Couch wird jetzt diskutiert. “Erneuerbare Energien müssen her”, sagt Max. Die beiden Politiker auf dem Bildschirm seien in dieser Frage aber nicht besonders glaubwürdig. “Das ist ein Thema von den Grünen”, sagt er.

Pierre ist anderer Meinung. “Die Grünen plakatieren Atomfässer und warnen vor schwarz-gelb, aber dann gehen sie in den Ländern mit der CDU in Koalitionen. Das ist Wählerverarschung, finde ich.”

Schon wird es wieder sperrig. Steinmeier spricht über Regulierung der Finanzmärkte. “Irgendwie finde ich den nicht authentisch”, sagt Jonas. Strengere Regeln seien nötig, sagt der Herausforderer. “Ja, und warum hat er das dann nicht gemacht?” will Max wissen. Jonas hat eine Analyse parat: “Steinmeier ist in einer ganz guten Situation. Er kann immer sagen, in der Großen Koalition geht das nicht”. Tatsächlich hat der Herausforderer Oberwasser. Die Kanzlerin steht etwas bedröppelt daneben. “Wie die guckt. Fehlt nur noch, dass die anfängt zu bellen”, sagt Pierre. “Die sagt eh nie, wie sie was machen will. Das ist einfach nur oberflächlich”, findet Jonas.

Merkel verliert im Osnabrücker Wohnzimmer noch weiter an Boden, als sie ihr Glaubensbekenntnis ablegt: “Wachstum schafft Arbeit.” Sie betont jede Silbe einzeln. Es ist ihre zentrale Botschaft und jeder soll sie verstehen. Die Kanzlerin will die Steuern senken. Steuersenkungen? “Das ist doch absolut unglaubwürdig”, findet Jonas. Das sagt auch Steinmeier.

Wieder ein Punktgewinn.

Das Duell plätschert so vor sich hin. Die Jungs wirken so, als würden sie ein Fußballspiel doch etwas spannender finden. Aber sie hören diszipliniert zu. Nach den Schlussworten ist Zeit für ein Fazit. Bei den vier Jungs ist die Sache klar: Beide waren irgendwie öde, aber Steinmeier hat sie überzeugt, auch wenn Merkel “für CDU-Verhältnisse schon ganz cool ist”, wie Jonas sagt. “Bei Steinmeier hätte ich nicht gedacht, dass der so charismatisch ist”, sagt Oskar. Pierre sieht das ähnlich, auch wenn er es schade findet, dass die kleinen Parteien nicht vertreten waren. Und Max meint: “Was nervt, ist, dass die gar nix über Bildungspolitik gesagt haben.” Stellvertretend für alle vier Erstwähler fasst Jonas zusammen: “Ich hab jetzt ein anderes Bild von Steinmeier, positiver als vorher. Das Duell hat er auf jeden Fall gewonnen.” Nach einer kurzen Pause schiebt er nach: “Aber die Wahl wird er trotzdem verlieren.” Die drei anderen nicken zustimmend.

siehe auch: Steinmerkel im TV

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Herr Grün und die Roten http://www.wahlfahrt09.de/menschen/herr-grun-und-die-roten/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=herr-grun-und-die-roten http://www.wahlfahrt09.de/menschen/herr-grun-und-die-roten/#comments Fri, 11 Sep 2009 13:54:26 +0000 Jan Patjens http://www.wahlfahrt09.de/?p=3043 Duisburg_Rainer_Gruen

Foto: Milos Djuric

DUISBURG.Aus Frust über die großen Parteien haben Deutsch-Türken in Duisburg einen eigenen Wählerverein gegründet. Sie wollen Menschen aus Zuwandererfamilien für die Politik gewinnen – und stellen fest, das ist nicht immer einfach.

Richtige Wahlkampfstimmung will nicht aufkommen an diesem Septembermorgen in der Friedrich-Engels-Straße in Marxloh. Schräg gegenüber der Marktklause haben ein paar ältere Männer von der SPD einen Infostand aufgebaut, es gibt Würstchen und rot-weiße Kugelschreiber. Der Bundestagsabgeordnete Johannes Pflug kämpft im Wahlkreis Duisburg II um ein Direktmandat. Doch das Interesse der Passanten hält sich in Grenzen. Und die CDU ist gar nicht erst gekommen, sehr zum Ärger der Genossen.

Marxloh, ein Stadtteil im Norden Duisburgs. Bundesweit bekannt wegen seiner Moschee, der größten in Deutschland, vor knapp einem Jahr eröffnet. Jeder Dritte der rund 18000 Einwohner stammt aus einer Migrantenfamilie. Man hat den Stadtteil mit Berlin-Neukölln verglichen und als Ghetto bezeichnet, als ein bedürftiges, von Arbeitslosigkeit und politischer Apathie geprägtes Problemviertel. Marxloh wurde zur „Chiffre für eine deutsche Banlieu“.

Marxloh ist mehr als eine deutsche Banlieu

Doch die Wirklichkeit ist vielschichtig, anders als das Klischee. In der Weseler-Straße, der Hauptstraße von Marxloh, gibt es sie zwar, die schmutzigen Gründerzeitfassaden, Wettbüros und Spielhallen, die Döner-Imbisse und dunklen Kneipen mit aschgrauen Gardinen. Aber es gibt hier eben auch prächtige Geschäfte für Brautmoden, Juweliere und Schuhläden, Ärzte und Apotheken mit türkischen Namen. Sie stehen für den neuen Mittelstand im Viertel.

Und noch etwas passt nicht in das Bild vom Problembezirk: Die Merkez-Moschee in Marxloh wurde ganz ohne Streit geplant und gebaut. Anders als in Köln, Frankfurt oder Berlin gab es hier keine Proteste der Anwohner und keine grundsätzlichen Bedenken. Vom „Wunder von Marxloh“ war deshalb die Rede.

Ein Wunder war es wohl nicht, eher ein Beispiel für Integration: Im Vorstand der Moschee sitzen Angehörige einer jungen Generation, pragmatische Deutsch-Türken, die im Ruhrgebiet aufgewachsen und beruflich erfolgreich sind. Den Bau der Moschee haben vor allem Frauen im Alter von 30 bis 40 Jahren vorangebracht. Sie setzten sich für einen Beirat ein, dem Vertreter christlicher Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und Nachbarn angehörten. Und für ein Begegnungszentrum, das allen offen steht.

Am Infostand der SPD kann man an diesem Morgen indes auch beobachten, dass es nicht immer so gut klappt mit dem Dialog zwischen Deutschen und Migranten. Und das liegt nicht nur daran, dass Berlin und der Bundestag weit weg sind. Auch bei den Kommunalwahlen Ende August hat in Marxloh gerade mal jeder vierte Wahlberechtigte seine Stimme abgegeben, Negativrekord in Duisburg. Oft ist im Stadtteil der Satz zu hören, die Migranten interessierten sich doch eh nicht für Politik.

Migranten für Politik begeistern

Schon wieder ein Klischee? Rainer Grün, 41, ist einer, der es wissen muss. Er ist Vorsitzender der „Duisburger Alternativen Liste“ (DAL), einer Wählervereinigung, die Migranten für die Politik gewinnen und ihre Interessen in der Kommunalpolitik besser zur Geltung bringen will. Sein Vater stammt aus der Türkei, seine Mutter aus Deutschland. Grün arbeitet als Wachmann und kommt gerade von der Nachtschicht. Es ist kurz nach zehn, Zeit für einen Feierabend-Tee in einem Döner-Grill an der Weseler Straße – und für ein Gespräch über Politik.

Im Wahlkampf habe er gemerkt, wie schwierig es sei, Migranten für Politik zu begeistern, sagt Grün: „Hier haben viele verinnerlicht, dass sie ‚Ausländer’ sind, sie fühlen sich nicht als Bürger.“ Außerdem trauten die meisten den Parteien nicht mehr zu, die Probleme zu lösen. Nach wie vor würden türkischstämmige Menschen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt diskriminiert, es fehle an Unterstützung für Vereine und an Angeboten für Jugendliche. „Die Resignation ist riesengroß, da ist es nicht leicht, die Leute zum Wählen zu bewegen.“

Als Spitzenkandidat der DAL hat Rainer Grün das selbst zu spüren bekommen. Nur 1,1 Prozent der Stimmen hat die Wählervereinigung bei den Kommunalwahlen in Duisburg gewonnen – das reicht immerhin für ein Mandat im Stadtrat. So wird Grün nun erstmals in das Gremium einziehen, er könnte also zufrieden sein. Doch die Enttäuschung über das schlechte Abschneiden seiner Liste überwiegt.

Trotz urdeutschem Namen auf hinterem Listenplatz

Es ist nicht die erste Enttäuschung für Grün. Als er im Jahr 2004 gemeinsam mit zwanzig anderen Duisburgern die DAL gründete, trieb ihn vor allem der Frust über die Parteien an. Grün war viele Jahre SPD-Mitglied, ein „aktiver Funktionär“, wie er sagt. Die Genossen an der Basis hätten ihn allerdings nicht recht zum Zug kommen lassen: „Ich durfte zwar Pöstchen bekleiden und Plakate kleben, wenn es aber um politische Ämter ging, war für mich Schluss.“ Die Altgedienten hätten nichts von ihrer Macht abgeben wollen, er sei nicht nach Leistung, sondern nach seiner Herkunft beurteilt worden. „Trotz meines urdeutschen Namens“, sagt Rainer Grün.

Ähnlich erging es anderen Gründungsmitgliedern der DAL, zum Beispiel Gürsel Dogan: Er war lange in der CDU, kehrte der Partei aber den Rücken, als sie ihn vor der Ratswahl 2004 auf einen aussichtslosen Listenplatz setzen wollte. „Wir hatten keine Chance, und das ausgerechnet in Duisburg“, sagt Grün. Die Parteien trügen selbst dazu bei, dass Migranten sich von ihnen abwendeten.

Dabei müssten die Parteien eigentlich großes Interesse an Leuten wie Rainer Grün haben. Rund 700.000 türkischstämmige Wähler gibt es in Deutschland, fast jeder Fünfte Einwohner ist zugewandert oder ein Kind oder Enkel von Migranten. In manchen westdeutschen Großstädten wird in einigen Jahren die Hälfte der Jungwähler aus Migrantenfamilien stammen.

Integration ist Randthema im Wahlkampf

Kein Wunder also, dass die Parteien um Zuwanderer werben und sie offiziell willkommen heißen. Spitzenpolitiker wie Cem Özdemir und Lale Akgün, Bülent Arslan und Hakki Keskin sollen Migranten ansprechen. Die Förderung von Integration steht in allen Parteiprogrammen – immerhin ist das Thema in der Bildungs-, Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik von entscheidender Bedeutung.

Doch im Bundestagswahlkampf spielt Integration kaum eine Rolle. Für Schlagzeilen sorgte allein Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, als er bei einem Wahlkampfauftritt in Duisburg rumänische Arbeiter beschimpfte: Die kämen nicht pünktlich zur Schicht und wüssten nicht, was sie tun.

Und an der Parteibasis stoßen Migranten oft auf Ablehnung, sie haben es schwer, attraktive Listenplätze zu ergattern. Im Bundestag sitzen derzeit fünf türkischstämmige Abgeordnete, zur Zeit der rot-grünen Koalition waren es sogar nur zwei. In diesem Jahr kandidieren zwar mehr als zwei Dutzend Deutsch-Türken für den Bundestag, die meisten von ihnen rangieren jedoch auf hinteren Listenplätzen und haben kaum Aussicht auf ein Mandat.

Ein Drittel Migranten, ein Sechstel migrantische Abgeordnete

In Duisburg sieht es ganz ähnlich aus. Ein Drittel der knapp 500.000 Einwohner hat hier einen so genannten Migrationshintergrund, im Stadtrat sind derzeit jedoch nur fünf von 74 Abgeordneten türkischer Herkunft. Einer von ihnen ist Gürsel Dogan, jener Kommunalpolitiker, der die CDU 2004 verlassen hatte und als DAL-Kandidat ein Mandat gewann. Er schloss sich bald der CDU-Ratsfraktion an und trat seiner alten Partei wieder bei. In seinem Wahlkreis Duisburg-Hochfeld ist er vor zwei Wochen direkt gewählt worden.

Eine kleine Erfolgsgeschichte, keine Frage. Dem neuen Stadtrat werden nun immerhin acht Abgeordnete aus Zuwandererfamilien angehören. Und zur Bundestagswahl tritt in Duisburg wenigstens ein Direktkandidat türkischer Herkunft an: Hüseyin Aydin von den „Linken“. „Die Situation hat sich etwas verbessert“, sagt Rainer Grün, „einige Parteimitglieder haben ihre Lektion gelernt.“ Das sei auch ein Verdienst der DAL.

Im Stadtrat will Grün, der ehemalige Sozialdemokrat, nun den CDU-Oberbürgermeister unterstützen. „Wir haben uns zwar aus Protest gegründet, wollen aber konstruktiv Politik machen“, sagt er. Und registriert mit Genugtuung, dass die Ratsfraktionen jetzt um seine Stimme werben.

Schnellboot der Migration in die Politik

Dennoch wollen Grün und die DAL weiter gegen die Politik- und Parteienverdrossenheit vieler Migranten kämpfen. „Keine Integration ohne Mitbestimmung“ lautet einer ihrer Slogans. „Wir wollen Leute aus der Basis ins Rathaus schicken, wir sind das Schnellboot der Migration in der großen Politik“, sagt Grün und klingt fast schon wie ein Berufspolitiker. Mittlerweile hat die Wählervereinigung 25 Mitglieder, darunter sind viele Frauen. Fast alle sind Deutsch-Türken, obwohl man keine reine Migrantenliste sein will und auch ein deutscher Arzt dabei ist. „Dal“ ist das türkische Wort für Ast. „Wir wachsen“, sagt Grün, „und man kann sich an uns festhalten.“

Fragt man Abdullah Küҫük, warum er sich für die DAL engagiert, dann sagt er: „Ich bin Deutscher, gelte hier aber immer noch als ‚Ausländer’. Das will ich mal abschaffen.“ Küҫük, 36, ist in Duisburg geboren und in Marxloh aufgewachsen. Er hat bei Thyssen eine Ausbildung zum Verfahrenstechniker gemacht und arbeitet heute im Stahlwerk Hamborn. „Viele meiner Freunde haben studiert, einige sind Ärzte oder Geschäftsleute geworden“, sagt er. „Wir stehen für gelungene Integration, die Parteien verwenden nur das Wort.“ Auch in der Bundespolitik dienten ihnen türkischstämmige Abgeordnete oft nur als Aushängeschild.

Abdullah Küҫük hat bei den Kommunalwahlen in Alt-Hamborn kandidiert, seine Frau Ebru, 28, trat in Marxloh an. Ein Mandat für die Bezirksvertretung haben beide nicht gewonnen. Doch das sei auch gar nicht so wichtig, sagt er. Es gehe ihm vor allem darum, dass Menschen türkischer Herkunft überhaupt wahrgenommen würden, auf allen Ebenen der Politik. „Geh’ zur Wahl!“, das sei der wichtigste Appell der DAL.

Bockwurst statt Baklava

In der Friedrich-Engels-Straße haben die Genossen ihren Stand inzwischen wieder abgebaut. Die SPD habe überhaupt keine Schwierigkeiten, mit Migranten ins Gespräch zu kommen, sagt einer. „Wir haben auch selbst welche dabei, das entwickelt sich schon.“ Sicher ist, dass die großen Parteien es sich immer weniger leisten können, die Gruppe der Migranten zu vernachlässigen. Und vielleicht hilft es ja schon ein bisschen, wenn der SPD-Ortsverein im nächsten Bundestagswahlkampf nicht nur mit Bockwurst, sondern auch mit Baklava auf Wählerfang geht.

Rainer Grün jedoch kann es sich vorerst nicht vorstellen, zu den Roten zurückzukehren.

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Wahlkampf nach der großen Pause http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wenn-politiker-mit-schulern-nicht-uber-bildungspolitik-reden-wollen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wenn-politiker-mit-schulern-nicht-uber-bildungspolitik-reden-wollen http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/wenn-politiker-mit-schulern-nicht-uber-bildungspolitik-reden-wollen/#comments Fri, 11 Sep 2009 10:30:05 +0000 Ute Zauft http://www.wahlfahrt09.de/?p=2424 Foto: Milos Djuric

Fotos: Milos Djuric

DUISBURG. Die Aula des Marxloher Berufskollegs ist voller Erstwähler, Wahlkampftermin mit den Direktkandidaten des Wahlkreises. Eine einmalige Gelegenheit für die Politiker, die Schüler für ihre Parteien zu begeistern – sollte man meinen. Nur merkwürdig, dass sie mit den Jungwählern nicht über das reden wollen, was sie eigentlich interessiert: Bildungspolitik.

Die Vorhänge sind zugezogen, nur die Bühne ist beleuchtet. Vor der Mittagspause sind die Oberstufenklassen dazu eingeladen, mit ihren Direktkandidaten zu diskutieren. Auf dem Podium sitzen fünf Männer, alle jenseits der 40. Einzig der Direktkandidat der Linken stammt ursprünglich nicht aus Deutschland – und das in einem Stadtteil, in dem mehr als  jeder Dritte einen Migrationshintergrund hat. Die CDU hat in Marxloh einen schweren Stand: Bei der Bundestagswahl 2005 kam sie auf 19,7 Prozent, die SPD auf mehr als doppelt so viel.

Beginn der Diskussion: Volker Mosblech von der CDU ist stolz auf die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft, die einen stabilen Ordnungsrahmen biete. Er plädiert für Tarifautonomie und gegen Mindestlöhne. Aus dem Publikum hört man leise Buhrufe. Eine Schülerin hält ihr Arme nach oben und die Daumen gen Boden. Eine andere fragt über Mikrofon, wie die Wirtschaft in 50 Jahren funktionieren soll, wenn sie alle jetzt keine Ausbildungsplätze bekommen.

Hüseyin Aydin von den Linken ergreift seine Chance: Er fordert eine Ausbildungsabgabe, damit wieder mehr Betriebe ausbilden. Lauter Applaus. 25 Milliarden Euro müssten in den Bildungsbereich investiert werden, dann ginge es auch wieder mit der Wirtschaft bergauf. Finanzieren ließe sich das mit einer stärkeren Besteuerung von Einkommen über 60.000 Euro. Diese Vorschläge seien ja schön und gut, erwidert Thomas Wolters von der FDP, aber es gebe einfach nichts zu verteilen. „Lassen Sie sich vom Populismus der Linken nicht einlullen!“ Murmeln im Publikum. Einer der Schüler, der die Diskussion leitet, bittet die Parteien, sich nicht gegenseitig anzugreifen.

90 Minuten soll die Diskussionsrunde dauern. Trotz einer langatmigen Debatte über Konjunktur- und Steuerpolitik, sind die Schüler erstaunlich ruhig. Plötzlich ergreift eine Schülerin mit langen blonden Haaren das Publikumsmikrofon: „Wann reden wir eigentlich über Bildungspolitik?“ Stille. Einer der Gäste habe darum gebeten, nicht über Bildungspolitik zu reden, erklärt kleinlaut ein Schüler. „Das ist schließlich Ländersache!“, outet sich der FDP-Mann als derjenige, der mit den Schülern nicht über das Thema reden will. Trotz dieser Steilvorlage ergreift keiner der Politiker die Chance, um die bildungspolitischen Positionen ihrer Parteien anzupreisen.

Johannes Pflug von der SPD spricht noch ein bisschen darüber, dass seine Partei den Bezug des Kurzarbeitergeldes auf 24 Monate verlängert habe. Mathias Schneider von den Grünen plädiert für eine nachhaltige Energiepolitik, alles andere sei eine Frage der Verteilung. Der Schulgong setzt den Schlusspunkt, die Schüler strömen aus der Aula. Beim Rausgehen regen sich zwei Schülerinnen über die Themenwahl ihrer Direktkandidaten auf: „Was denken sich die eigentlich, schließlich sind wir hier an einer Schule!“

Wahlfahrt09 hat vier Schülerinnen gefragt, wer sie überzeugt hat. Für ihre Antworten auf die Fotos klicken!

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