Wahlfahrt09 » DDR http://www.wahlfahrt09.de Mon, 03 May 2010 15:28:35 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.2.1 Ohne mich http://www.wahlfahrt09.de/orte/landkreis-im-demokratischen-vorruhestand/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=landkreis-im-demokratischen-vorruhestand http://www.wahlfahrt09.de/orte/landkreis-im-demokratischen-vorruhestand/#comments Sun, 27 Sep 2009 21:25:09 +0000 Daniel Stender http://www.wahlfahrt09.de/?p=3514 BÖRDE. Im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt blieben 2005 mehr Wähler zuhause als sonst wo in Deutschland: 32 Prozent gingen nicht zur Wahl – aus Langeweile, Politikverdrossenheit, Protest und Verpeiltheit. Auch 2009 gibt es viele Wahlberechtigte, die nicht wählen wollen. Fünf Begegnungen mit Nichtwählern in der Kreisstadt Haldensleben.

Nein, er wird nicht wählen gehen, erklärt der gepflegte ältere Herr, der seinen Pudel zwischen den Reihenhäusern von Haldensleben spazieren führt. Er schickt sich an zu gehen – doch dann bricht es plötzlich aus ihm hervor: „Dieser Verbrecherstaat! Mit dem möchte ich nichts zu tun haben!“, schimpft er. „Von mir aus sollte man die Mauer wieder aufbauen!“ Zeternd zieht er von dannen – einer von vielen, die sich im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt in den demokratischen Vorruhestand verabschiedet haben. 2005 gab es hier mit 68 Prozent die bundesweit niedrigste Wahlbeteiligung. Und bei der Europawahl in diesem Jahr lag die Quote bei knapp 40 Prozent, weit über die Hälfte aller Wähler blieb also zu Haus. Und doch ist es auf den Straßen der Kreisstadt Haldensleben mehr als schwierig, einen Nichtwähler zu treffen, der bereit ist, seine Abstinenz zu erklären.

Bei 68% Wahlbeteiligung geht eben doch noch ein großer Teil der Bevölkerung zur Wahl. Und es scheint, als hätten die sich verabredet, um uns das vielfältige demokratische Haldensleben vorzuführen: Der freundliche Vater bei McDonalds, die ältere Dame am Wegesrand, der junge Mann, mit seinem aufgemotzten Auto, sie alle sind überzeugte Wähler, ausgestattet mit den besten Argumenten.

Aber wo sind sie dann, die Nichtwähler in Haldensleben? Warum wählen sie nicht? Und sind sie alle derart stereotyp-ostalgisch wie der Meckeropa mit dem Pudel?

„Ist doch egal, wen ich wähle“

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

„Politik interessiert mich herzlich wenig“, sagt die 18-Jährige Saskia Sperl, als wir sie nicht weit entfernt von den Reihenhäusern des Meckeropas treffen. Eigentlich ist sie die klassische Zielgruppe all der Kampagnen, die Jungwähler dazu bewegen wollen, die Bundestagwahl 2009 als ihr erstes Mal in Sachen aktiver Demokratie zu nutzen. Aber die Partei, die Saskia Sperls Interessen vertritt, müsste wohl noch gegründet werden: „Eine Partei wäre für mich dann wählbar, wenn sie Steuern, Praxisgebühr und hohe Benzinkosten abschaffen würde“, sagt sie. In der Schule hat sie mal ein Referat über die Grünen halten müssen: „Das war nicht so spannend, aber einiges war auch interessant“, erinnert sie sich. Generell ist sie der Meinung, dass sich durch Wahlen „eh nichts ändert. Ob ich wen wähle oder nicht, ist doch ganz egal.“ Für die angehende Bürokauffrau sind andere Sachen wichtiger: Am späten Samstagnachmittag ist sie gerade mit einer Freundin auf dem Weg in eine Eisdiele, am Sonntagmorgen will sie ausschlafen und den freien Tag genießen. Sagt sie und düst mit ihrem kleinen Auto davon.

„Im Grunde keine Wahl“

53 Jahre alt ist der Dachdecker, der am Rand einer malerischen Kleingartenanlage wohnt und gerade in seinem Hof vor sich hin werkelt. Seinen Namen möchte der Mann nicht nennen, auch will er nicht fotografiert werden. Nichtwählen scheint selbst in Haldensleben eine Sache zu sein, die man eher im Verborgenen tut: „Man wird schnell populär heutzutage“, sagt er skeptisch. Er will nicht wählen gehen, weil er der Meinung ist, dass er „im Grunde keine Wahl“ hat. Schließlich haben sich durch die Große Koalition beide Volksparteien einander inhaltlich angenähert; „Wähle ich die CDU, dann habe ich ein Übel, wähle ich SPD, dann habe ich es auch“, sagt er. Aber, betont er immer wieder, er sei kein unpolitischer Mensch, er informiere sich und habe sich seine Enthaltung gründlich überlegt: „Wenn ich am Wahlabend die Ergebnisse ansehe, dann habe ich ein ruhiges Gewissen. Denn egal, wer gewinnt, ich habe damit nichts zu tun.“

Drei große Fragezeichen auf dem Stimmzettel

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

Fernab der Schrebergartenidylle der Kreisstadt liegt die Hafenstraße – die Gegend hat in Haldensleben keinen guten Ruf. „Fragen Sie mal bei denen, die sich da hinter der Tankstelle an ihren Bierflaschen festhalten“, hören wir von den vielen engagierten Wählern und machen uns auf den Weg in die Schmuddelecke. Aber die Biertrinker hinter der Tankstelle wollen ihre Ruhe. Oder sie sind gar keine Nichtwähler. „NPD“, sagt einer und grinst. Wenige Schritte entfernt sieht Haldensleben schon wieder ganz anders aus: Im nahegelegenen Jugendclub findet ein Benefizkonzert statt, viele eher alternativ aussehende Jugendliche in Kapuzenpullovern treffen sich hier mit Freunden. Die 28-jährige Kate ist Sozialpädagogin, sie hat die Konzerte im Jugendclub mitorganisiert. „Ich sehe in dieser Parteienlandschaft für mich keine Alternative“, sagt sie. Daher will sie „drei große Fragezeichen“ auf ihren Stimmzettel malen und ihn so ungültig machen. „Aber meine Stimme wird so schon gezählt und kommt nicht der NPD oder irgendeiner radikalen Partei zugute“, erklärt sie. Kate geht also zur Wahl, aber nur, um ihrem Protest gegen die vorhandenen Wahlmöglichkeiten Ausdruck zu verleihen. In den letzten Jahren hat Kate an den Wahlen teilgenommen: „Irgendwann in meinem Leben werde ich schon mal wieder wählen gehen“, sagt sie. In diesem Jahr aber ist sie nur indirekt dabei.

Nicht wählen, weil unterwegs

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

„Wir sind zu Besuch bei unseren Schwiegereltern“, sagen B. Sonnabend und G. Bertram. Wir treffen das junge Paar (23 und 20 Jahre alt) mit ihrem neun Wochen alten Sohn vor einem Altersheim im Stadtteil Alt-Haldensleben, wo die Stadt langsam in die sanften Hügel der Bördelandschaft übergeht. Die beiden stammen aus Lehrte bei Hannover und können nicht wählen gehen, weil sie unterwegs sind. „Wir haben zwar die Unterlagen zur Briefwahl bekommen, aber ich habe die weggeworfen“, sagt B. Sonnabend – es habe eben niemand gewusst, fügt die junge Frau hinzu, dass sie ausgerechnet am 27. September nach Haldensleben fahren würden. Sonst wären sie mit Sicherheit zur Wahl gegangen. „Immerhin“, sagt G. Bertram, „die Schwiegereltern sind gerade unterwegs zum Wahllokal.“

„Politiker sind scheiße“

Foto: Jörn Neumann

Foto: Jörn Neumann

Vado Manuel darf an der Wahl gar nicht teilnehmen: Er hat keinen deutschen Pass. Wir treffen den 18-Jährigen vor dem Lidl im Industriegebiet von Haldensleben. Vado Manuel wartet hier mit seinem 17-jährigen Cousin, die beiden telefonieren, albern herum und verbreiten mit ihren weiten Baseball-Klamotten etwas Hip-Hop-Flair auf dem öden Parkplatz. „Politik sollte sich dafür einsetzen, dass auch Ausländer die gleichen Rechte haben wie Deutsche“, sagt Vado Manuel. Seit 16 Jahren wohnt Vado Manuel in Deutschland und hat noch immer keinen deutschen Pass, obwohl er zu seiner afrikanischen Heimat viel weniger Bezug hat als zu Deutschland. Zur Zeit macht er eine Ausbildung zum Koch – die Lehre macht Spaß, sagt er. Selbst wenn er an der Bundestagswahl teilnehmen könnte, würde er aber nicht mehr wählen gehen: „Politiker sind scheiße“, sagt er: „Die machen Versprechen, die sie nicht halten.“ Er hat lange gehofft, dass ihm die Politik einen Pass verschaffen würde. Nun würde er aber nicht mehr wählen gehen, selbst wenn er dürfte. Das erste Mal Demokratie fällt für ihn auf jeden Fall aus.

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TV-Duell: Merkels Heimspiel in der Kneipe http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/tv-duell-merkels-heimspiel-in-der-kneipe/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=tv-duell-merkels-heimspiel-in-der-kneipe http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/tv-duell-merkels-heimspiel-in-der-kneipe/#comments Sun, 13 Sep 2009 11:39:00 +0000 C. Salewski http://www.wahlfahrt09.de/?p=2700 Osnabrueck_duellabend

Foto: Milos Djuric

OSNABRÜCK. Die Straßen in Osnabrück sind an diesem Sonntagabend wie leergefegt. Das mag an Osnabrück liegen. Oder daran, dass TV-Duell-Zeit ist. In der “Peitsche” sammeln sich die Anhänger der Kanzlerin.

Die Kneipe, in der sich der bürgerliche Konservatismus versammelt, trägt den einprägsamen Namen “Peitsche”. Nicht “Zur Peitsche”, einfach “Peitsche”. Draußen ist angeschlagen, was heute geboten wird: “Angie vs. Steini live auf der Leinwand”. Das lockt immerhin knapp 30 potentielle Wähler in den zugequalmten Hinterraum. Die dunkle Holzvertäfelung hat wie viele der Zuschauer das Rentenalter erreicht. Der Wirt Sebastian Heukamp hingegen ist Vertreter der Jungen Union. Mit 35 Jahren.

Heukamp nimmt es sportlich, dass der Wahl-O-Mat ihm empfohlen hat, für die Piratenpartei zu stimmen. Erstaunt sei er schon gewesen, aber das politische Weltbild ist nicht in Gefahr. Als Steinmeier sich auf der Leinwand als einzig wahrer Opel-Retter in Szene setzt, zischt Heukamp nur: “Privat fährt der wahrscheinlich Mercedes.” Es soll wohl so etwas wie ein Argument sein.

Seine Gäste tauen nach dem zweiten Bier langsam auf. Ein Senior beschimpft Steinmeier als “Lügner” und “Mistkerl”. Er hat schon zwei Schnäpse Vorsprung. Dabei ist auf der Leinwand bisher nur Friede, Freude, Eierkuchen. Als Frank Plasberg die Duellanten daran erinnert, dass eigentlich Wahlkampf mit Betonung auf Kampf herrscht, raunt ein Mann hinter seiner Lesebrille: “Nicht die Politiker streiten sich heute, sondern die Moderatoren.” Schon ist ein konsensfähiges Thema gefunden: “Die Illner verdient ja viel mehr als Merkel”, sagt eine resolute Dame. Obwohl beide aus Ostdeutschland kämen. Ihr Nebenmann sieht die Chance für einen Lacher: “Und sie ist produktiver”, setzt er nach. Kichern.

Im Fernsehen geht es jetzt um Ulla Schmidt und die Gesundheitsreform. In der “Peitsche” geht es um ihren Dienstwagen. Als auch Steinmeier das Wort Dienstwagen in den Mund nimmt, frohlockt ein bärtiger Gast: “Eigentor!” Jetzt hat die Dame ihren Auftritt, die findet, dass die Kanzlerin zu wenig verdient. “Die SPD will Verhältnisse wie in der DDR schaffen”, sagt sie. “Alles soll gleich gemacht werden. Gemeinschaftsschulen, Krankenversicherung. Und die Börsensteuer, die trifft die kleinen Leute, die die Riester-Rente haben, nicht die Börsianer.”

Endlich versucht die Kanzlerin so etwas wie eine Offensive, greift die linke Flanke ihres Herausforderers an. Die SPD würde ja auch mit der Linken undsoweiter. In der Peitsche ist man zufrieden bis begeistert. “Jetzt kommt sie ja mal langsam, hat ja lange gedauert”, sagt Einer. “Super, gut”, sagt ein Anderer.

Dann setzt Steinmeier zum Schlusswort an, spricht direkt in die Kamera und damit direkt in die “Peitsche”. Er hebt an: “Aus der Krise…” Doch weiter kommt er nicht. “Nicht mit der SPD! “, stößt es aus einem Gast heraus. “Auswendiggelernt!”, ruft sein Nachbar. Es wirkt so, als würde ein Kind “Ätschi-Bätsch!” rufen, auch wenn es etwas anders klingt. Bei Merkels Schluss-Statement herrscht dann andächtige Stille. Als sie fertig ist, applaudieren die Gäste. Die Kanzlerin ist in der “Peitsche” die klare Siegerin. Auch wenn es dafür kein TV-Duell gebraucht hätte.

Text: Jens Christian Kage, Christian Salewski

siehe auch: Steinmerkel im TV

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„Wenn die Züge heil ankommen, dann ist das DDR-System kaputt“ http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9ewenn-die-zuge-heil-ankommen-dann-ist-das-ddr-system-kaputt%e2%80%9c/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=%25e2%2580%259ewenn-die-zuge-heil-ankommen-dann-ist-das-ddr-system-kaputt%25e2%2580%259c http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/%e2%80%9ewenn-die-zuge-heil-ankommen-dann-ist-das-ddr-system-kaputt%e2%80%9c/#comments Fri, 21 Aug 2009 12:56:30 +0000 Lena Gürtler http://www.wahlfahrt09.de/?p=2353 Pastor Schlicht Hof

Foto: Lu Yen Roloff

HOFDie Züge waren der Anfang vom Ende. Am 1. Oktober 1989 erreichen 5500 DDR-Flüchtlinge per Bahn die Bundesrepublik. Wochenlang hatten sie dafür in der Prager Botschaft ausgeharrt. Erste Station der Flüchtlinge auf ihrem Weg in die ungewisse Freiheit: Hof. Als Geschäftsführer des Diakonischen Werkes empfing Friedrich Sticht damals die Flüchtlinge am Bahnsteig. Ein Gespräch über einen unfassbaren Moment und seine Folgen.

Konnten Sie sich in Hof auf die DDR-Flüchtlings-Züge vorbereiten?

Am Vorabend des 1. Oktober wurde ich angerufen, dass die Bahnhofsmission in Funktion treten sollte, weil Züge aus Prag kommen. Wir wussten, dass der damalige Außenminister Dietrich Genscher verkündet hatte, dass Züge fahren würden. Aber wie das Ganze ablaufen sollte, wusste kein Mensch. Ich habe dann meine Bahnhofsmissionsmitarbeiter aktiviert. Es kamen auch immer mehr andere Hilfsdienste, neben der Diakonie auch die Caritas, das Rote Kreuz, die Arbeiterwohlfahrt, das technische Hilfswerk und eine Menge Bahnpolizei. Und dann haben wir gewartet. Es wurden immer neue Ankunftstermine durchgegeben. Wie wir die Nacht verbracht haben, weiß ich nicht mehr.

Erinnern Sie sich an den Moment als die Züge ankamen?

Als bekannt wurde, dass die Züge kurz vor Hof sind, sind wir rausgegangen und haben geschaut, was passiert eigentlich. Und dann der unendliche Jubel, die Begeisterung. Als die Züge eingefahren waren, sind viele gleich aus dem Zug rausgesprungen. An den Fenstern wurde gejubelt. Es war eine Begeisterung und Verbrüderung. Es war einfach wunderschön.

Was haben sie in diesem Augenblick gedacht?

Ich wusste ja, wenn sich hier was ereignet, dann ist es ein welthistorischer Augenblick. Wenn die Züge aus Prag wirklich heil hier ankommen, dann ist das DDR-System kaputt. Das ist eine Schleusentür, die nicht mehr zuzumachen ist. So war es ja dann auch. Mein erster Eindruck war: Es ist unglaublich. Wir hatten die Grenze in Hof sehr bitter erlebt. Wenn man nur ein paar Schritte rausgefahren ist aus Hof, dann war die Grenze überall in ihrer ganzen Entsetzlichkeit. Wir hatten nicht erwartet und nicht erhofft, dass sie eines Tages aufgehen könnte. Dann ist es doch passiert. Ich habe gedacht: Es ist unfassbar.

Und welchen Eindruck haben die Leute aus den Zügen auf sie gemacht?

Die waren alle euphorisiert. Natürlich trugen sie zum Teil Spuren des langen Aufenthaltes in der Botschaft. Unterwegs hatten sie schon etwas Essen und Trinken bekommen, auch Sekt und Rotwein. Wir haben dann versucht, sie zu versorgen. Wir haben Unmengen Tee und Kakao gekocht. Das, was wir auf die Schnelle bereitstellen konnten. Ich weiß nicht, wie viele hiergeblieben sind. Die wurden dann von der Stadt versorgt. Aber die meisten fuhren weiter. Nach der ersten Begrüßung in Hof sind die Züge nach ein bis zwei Stunden wieder weiter gefahren.

Stimmt es, dass einige Flüchtlinge noch Sommerkleidung an hatten?

Ja, die kamen zum Teil wirklich in Sommersachen an. Offiziell waren sie ja auf Urlaub und hatten sich eben dementsprechend unauffällig gekleidet. Zum Teil haben die arg gefroren. Die Hofer haben sofort unendlich viel gespendet. Es gab Berge von Kleidern, Lebensmittel, die Leute haben ihre Kühlschränke geleert. Die Gastfreundschaft der Hofer war damals riesig. Es durfte ja keiner auf den Bahnhof, aber die Leute haben die Sachen an den Polizeisperren abgegeben. Die Hofer waren unglaublich aufgeschlossen und hilfsbereit.

Was haben die Leute, die hier ankamen, am meisten gebraucht?

Die wollten sich natürlich erst mal mit Kleidung versorgen. Manche waren auch hungrig. Aber das Materielle war in dem Augenblick zweitrangig. Was sie gebraucht haben, war eigentlich nur das Gefühl, sie werden aufgenommen. Das Materielle kam später sehr bald natürlich, aber zunächst mal mussten sie aufgenommen werden und die Freundlichkeit hier erfahren. Viele waren von der Freundlichkeit hier überrascht.

Gab es für Sie in all diesem Trubel einen besonderen Moment?

Ich erinnere mich, dass aus dem ganzen Bundesgebiet Angehörige und Freunde ihre Leute sprechen wollten. Dann haben wir in der Bahnhofsmission einen Sammelpunkt für Familienzusammenführungen eingerichtet. Und ich habe dann über den Bahnhofslautsprecher bekannt gegeben: „Familie X sucht Familie Y.“ Oder „Frau Z. sucht ihren Sohn.“ Lange Listen habe ich durchgegeben, die ständig von Bahnbeamten erneuert wurden. Das war unglaublich schön.

Gab es damals schon Hofer, die gesagt haben: „Was kommt da auf uns und auf die BRD zu“?

Nein, das gab es überhaupt nicht. An eventuelle negative Folgen der Grenzöffnung hat damals niemand gedacht. Wir haben einfach nur gedacht: Es ist unglaublich, dass die Grenzen geöffnet worden sind und wir so aus dem letzten Ende der Welt für einige Zeit in den Mittelpunkt geraten.

Ist die Stimmung in Hof irgendwann umgeschlagen?

Ja, das ist natürlich passiert. Als die Grenze im November komplett geöffnet wurde und jeden Tag hunderttausende Menschen in die Stadt kamen und schon um halb neun unsere Geschäfte leer gekauft waren. Da haben schon Einige gemault. Man muss wissen, die Oberfranken und die Sachsen waren schon immer Konkurrenten. Als die Sachsen bereits maschinelle Webereien hatten, hatten wir noch Handweber. Die Sachsen waren uns oft ein bisschen voraus. Wir hier in Hof sind konservativ. Diese Konkurrenz ist dann auch wieder hochgekommen.

Hof hat mit dem Fall der Mauer seine Bedeutung als Grenzort verloren.

Ja, vielleicht. Das Problem ist das Fördergefälle. Die neuen Länder und jetzt auch Tschechien werden von der Europäischen Union gefördert. Und Hof hat seinen Förderstatus verloren. Wir haben früher in der Diakonie viele Gebäude mit Hilfe von Grenzlandförderung gebaut. Das ist leider bald weggefallen. Man hätte mehr aufpassen müssen, dass der Förderabstand zwischen alten und neuen Ländern nicht so groß wird. Hof hat zwar seine Rolle als Grenzort verloren. Aber wenn man überlegt: Von hier aus sind es überall hin 300 Kilometer – nach München, nach Frankfurt, nach Berlin, nach Prag. Das haben wir gewonnen. Natürlich fühlen wir uns politisch als Nabel der Welt. Aber das Gefühl hat wohl jeder Ort.

Haben die Leute aus der DDR, die hier geblieben sind, das Bild in Hof geprägt?

Eine ganze Anzahl meiner ehemaligen besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommen von drüben. Viele, gerade auch Frauen, haben sich mehr über den Beruf definiert. Auch hier bei der „Hofer Tafel“ habe ich einige solcher ehrenamtlicher Mitarbeiter. Manchmal gibt es dann mit den Einheimischen Probleme, weil die sagen, „Die sind zu fix, die reden zu schnell, die sind zu schlagfertig“, während wir Hofer das nicht so sind. Aber auch solche Konflikte haben wir inzwischen überwunden.

Ist die Grenzöffnung im Rückblick also eine Erfolgsgeschichte?

Es war großartig. Aber die politische Entwicklung danach ist nicht optimal gelaufen. Mir wäre es lieber gewesen, wenn man die Chance genutzt hätte, nach dem Beitritt der DDR ein gemeinsames neues Grundgesetz dem Volk zur Abstimmung zu überlassen. Der Einmarsch der CDU durch Kohl hat mir nicht gut gefallen. Das war die Ausnutzung einer Schwächeperiode. Viele Ex-DDR-Bürger haben das der Politik immer noch nicht ganz verziehen. Zumal dann auch noch einige Versprechen gebrochen wurden. Daher gibt es jetzt vielleicht diese Politikmüdigkeit in der ehemaligen DDR. Man kann nur hoffen, dass die Jugendlichen zwar nicht vergessen, wo sie herkommen, aber dass vielleicht trotzdem eine neue gesamtdeutsche politische Kultur entsteht.

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Herz aus Stahl http://www.wahlfahrt09.de/orte/eisenhuttenstadt-eko-stahlwerk/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=eisenhuttenstadt-eko-stahlwerk http://www.wahlfahrt09.de/orte/eisenhuttenstadt-eko-stahlwerk/#comments Wed, 19 Aug 2009 10:44:18 +0000 JC Kage http://www.wahlfahrt09.de/?p=775

Von JC Kage und Ulrike Steinbach

EISENHÜTTENSTADT. Manfred Groß hat sein gesamtes Berufsleben im ehemaligen EKO-Stahlwerk in Eisenhüttenstadt verbracht. Mit den Wahlfahrt09-VJs spricht er über die Vergangenheit und den Wandel des Werks.

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„Wir müssen unseren Hintern hochkriegen“ http://www.wahlfahrt09.de/menschen/wir-mussen-unseren-hintern-hochkriegen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=wir-mussen-unseren-hintern-hochkriegen http://www.wahlfahrt09.de/menschen/wir-mussen-unseren-hintern-hochkriegen/#comments Tue, 18 Aug 2009 13:27:03 +0000 Kathleen Fietz http://www.wahlfahrt09.de/?p=1291 Halle_Kaufhaus_quer

Foto: Michael Bennett

HALLE. Wie viele ostdeutsche Städte hat auch Haale an der Saale mit Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsrückgang zu kämpfen. Das zu ändern, ist Janis Kapetsis Mission: Mit Jazz, einem Bürgerverein und einem Designkaufhaus.

Mit staubigen Schuhen läuft Janis Kapetsis durch die große Eingangshalle. Dunkel und ein wenig feucht ist es in dem über hundert Jahre alten Kaufhaus. Von den Decken hängen Tapeten in langen dünnen Fetzen, das Bild erinnert an Tropfsteinhöhlen. Trotz Staub und blättrigen, mit Graffiti besprühten Wänden ist die einstige Schönheit des Jugendstilbaus noch zu erkennen: Lange Säulen reichen von der großen Eingangshalle bis hinauf zu dem gläsernen Kuppeldach, das aus DDR-Zeiten noch zugeklebt ist.

13_Janis_Kapetsis

Foto: Michael Bennett

„Halle hat ein unglaubliches kreatives Potential, wir wollen das hier bündeln und kommerziell vermarkten“, sagt Janis Kapetsis, als er eine morsche Holztreppe nach oben steigt. Das marode Kaufhaus hat der 44-Jährige zusammen mit einem Geschäftspartner Anfang dieses Jahres ersteigert. Ein Design-, Kultur- und Medienkaufhaus wollen sie daraus machen. Die kreative Szene Halles sitzt vor allem an der Kunst- und Designhochschule Burg Giebichenstein, an der auch Kapetsis 1985 bis 1990 Design studiert hat.

Was klingt wie ein ambitioniertes Kunstprojekt, ist eine Geschäftsidee, mit dem Unternehmen in die Innenstadt gelockt werden sollen. Design- und Modeläden mit Wellnessangeboten und Lounge im Erdgeschoss, Firmen aus der Medien- und Designbranche in den oberen Galerien – so der Plan. Janis Kapetsis, Cabrioletfahrer, braungebrannt, sportlich, mit Dreitagebart und kurzen Haaren ist ein dynamischer Geschäftsmannes durch und durch. Erfolgreich und zudem überall in der Stadt engagiert: Als sich Leipzig als Olympiastadt bewarb, war er Marketingbeauftragter für den Co-Standort Halle, er sponsert die Hallensischen Basketballfrauen, die in der ersten Bundesliga spielen, und seine Agentur kreiert die aktuelle Werbekampagne des ansässigen Stromanbieters.

Janis Kapetsis Vater kam Anfang der 50er Jahre nach Halle. Er gehöre zur so genannten verlorenen Generation Griechenlands, erzählt der Sohn. Partisanen hatten im Bürgerkrieg Tausende von Kindern in sozialistische Länder verschickt. Mit seinem Vater kamen zwanzig andere Griechen nach Halle, deshalb gab es in Kapetsis Schule auch Griechischunterricht. Ein Produkt designte Kapetsis noch für die DDR-Produktion, bevor die Wende kam: Einen Gepäckträger für den Fahrradhersteller Mifa, der 1988 eine Silbermedaille auf der Leipziger Messer gewann. Produziert wird der heute noch, aber Geld verdient der Hallenser damit nicht, er hatte versäumt das Ost-Patent in Westdeutschland rechtzeitig anzumelden. „Ich bin halt ein doofer Ossi gewesen“, kokettiert er.

Die Wende verstand der zielstrebige Hallenser nicht als Karrierebruch, sondern als Chance. Als selbständiger Designer entwarf er Restaurants und Schlafwagen für russische Hochgeschwindigkeitszüge. 1997 gründete er seine eigene Agentur „Kappa“ und spezialisierte sich auf Kommunikationsdesign, er arbeitet heute vor allem für Unternehmen aus der Immobilien- und Versorgungswirtschaft in ganz Deutschland. Seit drei Jahren betreibt der dreifache Vater zudem mit einem Partner einen Internethandel für hochwertige Designprodukte.

„Und da hinten könnte man dann…“, sagt Kapetsis und zeigt ans Ende der großen Eingangshalle des Kaufhauses. Er führt den Wirtschaftsanwalt Wolfgang Matschke durch das Gebäude, da sich einer seiner Mandanten dafür interessiert. „Kapetsis ist einer der kreativsten Köpfe dieser Stadt. Und er ist gleichzeitig ein guter Geschäftsmann und das gibt es selten“, sagt Matschke, der früher Kanzler der Universität war.

Die beiden gehen vom Kaufhaus aus über den nahe gelegenen Universitätsplatz. Eine große Freitreppe führt zu den im 19. Jahrhundert entstanden Universitätskomplex, daneben das neu gebaute, verglaste Audimax. Dazwischen schlängeln sich enge Gassen mit kleinen Häusern aus der Barock- und Renaissancezeit, zwischen die immer wieder Plattenbauten gesetzt wurden. „Kuschelig, kleinbürgerlich und auch proletarisch und dann die Hochkultur und Wissenschaft – das ist Halle“, sagt Kapetsis. Händel ist in der Stadt geboren, die Gelehrtengesellschaft der Leopoldina und die Franckesche Stiftungen haben ihren Sitz hier in der Saalestadt. „Halle ist die verkannteste Stadt Deutschlands, wir brauchen Botschafter wie Kapetsis“, sagt Matschke.

Was man von dem schönen zentralen Universitätsplatz aus nicht sieht, ist Halle-Neustadt, wo Erfolgsgeschichten wie die von Kapetsis eher nicht zu finden sind. Bis 1990 eine eigenständige Industriestadt um die Chemiewerke Leuna und Buna Schkopau ist die ehemalige Arbeiterstadt heute vor allem von Leerstand und Arbeitslosigkeit gezeichnet. 1990 wurden Halle und Halle-Neustadt zusammengelegt. Von den mehr als 300 000 Einwohner zu Wendezeiten sind heute nur noch 232 000 übrig.

20_Halle Zentrum

Foto: Michael Bennett

„In Halle ist Anfang der 90er Jahre nichts passiert, um wieder Wirtschaft anzusiedeln. Das macht mich heute noch sauer“, sagt Kapetsis und zum ersten Mal verschwindet sein Lächeln. Deshalb gründete er vor sechs Jahren den Bürgerverein „Wir für Halle“ mit, der es dann mit drei Sitzen in den Stadtrat schaffte. Doch auch mit politischer Teilhabe konnte er weniger als erhofft bewegen. „Es ist wie auf Bundesebene: Durch die vielen kleinen Parteien und Bürgervereine dauern Entscheidungsprozesse unheimlich lange und kreative Ideen werden oft abgeschmettert“, erklärt er. Eine solche Idee war etwa, freie Bauflächen an Investoren zu verschenken und an die Schenkung eine Bauverpflichtung zu koppeln, um Unternehmen in die Region zu locken.

Zurück in der Agentur. Mit seinen Angestellten sitzt Kapetsis in der Küche, jeden Tag kocht jemand für die gesamte Crew. Elf Festangestellte arbeiten derzeit in der Agentur, sein Internethandel verzeichnet trotz Wirtschaftskrise Umsatzzuwächse. Als mittelständigen Unternehmer ärgern ihn die politischen Rettungsaktionen großer Banken und Wirtschaftsunternehmen. „Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Große marode Unternehmen werden gerettet, obwohl sie Fehler gemacht haben und die machen die kleinen ehrlichen Mittelständler kaputt“, beklagt er sich und fordert Steuererleichterung als Anerkennung für solides Wirtschaften. Bei der Bundestagwahl wird der klassische Wechselwähler diesmal der CDU seine Stimme geben. „Eine Medienkanzlerin ist Angela Merkel nicht, aber ihr rationales Denken ist mir wichtiger“, erklärt er die Entscheidung.

Inzwischen ist Kapetsis von vielen Ämtern zurückgetreten, engagiert sich aber nach wie vor in der Stadt. So etwa mit dem ersten europäischen Frauen-Jazzfestival, das er seit fünf Jahren mitorganisiert. Eine Kneipenidee mit zwei Freunden, Kapetsis hatte damals kaum Ahnung von Jazz. Inzwischen kommen jährlich bis zu 4000 Besucher zu dem Event. Jetzt fordert er vom Land finanzielle Unterstützung. „Wir haben gezeigt, dass man so etwas mit privatem Engagement stemmen kann. Jetzt nützt es dem Land und deshalb sollen die jetzt mit ran“, erklärt er.

Kapetsis steht auf dem Dach seines Kaufhauses. Er hofft, es 2011 zu eröffnen; in diesem Jahr wird in den baufälligen Räumen noch eine große Kunst- und Designausstellung stattfinden. „Wir müssen unseren Hintern hochkriegen, müssen einfach besser sein als andere und mit innovativen Ideen Touristen und Unternehmen begeistern“. Wie oft, wenn Kapetsis das Wort „wir“ benutzt, ist nicht ganz klar, ob er gerade die Kunstszene, die Hallensischen Unternehmer oder Politiker oder die ganze Stadt Halle meint. Denn für ihn gehört das alles zusammen.

18_gemeinsames Mittagessen_in_der Agentur

Foto: Michael Bennett

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Stimmen aus Halle http://www.wahlfahrt09.de/menschen/stimmen-aus-halle/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=stimmen-aus-halle http://www.wahlfahrt09.de/menschen/stimmen-aus-halle/#comments Mon, 17 Aug 2009 16:11:56 +0000 Lena Gürtler http://www.wahlfahrt09.de/?p=592 Rainer K.

Foto: Michael Bennett

HALLE. Jeden Tag sprechen wir mit vielen Menschen, die zu uns an den Wahlfahrt09-Wagen kommen. Hier sind ein paar Stimmen aus Halle. Heute sprachen wir mit einem ehemaligen Heizer und dem Ehepaar Fischer. Sie finden, dass in Deutschland zu viel gejammert wird.

Rainer K., 64

ist seit 1990 überzeugter CDU-Wähler. Zu DDR-Zeiten arbeitete er im Chemiewerk in Buna und als Heizer. Im Herbst 1989 flüchtete er über die Prager-Botschaft nach Düsseldorf, kehrte aber im Juli 1990 nach Halle zurück.

„Von Angela Merkel wünsche ich mir, dass sie die Steuern runter setzt, besonders für Lebensmittel. Und sie soll nicht vergessen, dass sie aus der DDR kommt: Sie soll auf die Leute achten, die wenig Geld haben. Außerdem sollte es in jeder Stadt eine Förderschule für Analphabeten geben. Wie sollen die sonst wählen?“

Gerda Fischer

Foto: Michael Bennett


Gerda Fischer, 68

wurde mit ihrer Familie aus Westpreußen umgesiedelt und zog mit ihren Eltern als Siebenjährige nach Halle. Die ehemalige Zahntechnikerin lebte eine Weile mit ihrem Mann in Graal-Müritz in Mecklenburg-Vorpommern. Heute ist Halle ihre Wahlheimat, weil sie die Stadt im Gegensatz zu DDR-Zeiten sehr schön findet - und weil sie hier groß geworden ist.

"Wir haben eine kleine Rente, aber uns geht’s gut. Die meisten jammern, die Deutschen sind ja Spezialisten darin. Die sollen mal nach Afrika gehen. Wir waren mal in Ägypten, da haben wir Armut gesehen. Wir haben Menschen gesehen, die auf dem Friedhof  leben und nichts zu essen haben. Die können jammern, aber die Deutschen nicht. Hier braucht keiner verhungern, aber dort schon.“

Klaus Fischer

Foto: Michael Bennett


Klaus Fischer, 72

ist der Mann von Gerda Fischer.

„Merkel ist gut, weil sie aus dem Osten ist. Die wähle ich auch. Die sind am ehrlichsten. Die SPD lügt doch nur. Ich habe das beim letzten Mal verfolgt. Die machen Wahlversprechen und sagen, es gibt keine Mehrwertsteuer-Erhöhung und dann machen sie es doch. Die CDU ist da doch ein bisschen ehrlicher. Und wir sind auch Christen, deshalb liegt uns das näher.“

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“Ich bin Protestwählerin, ich geh die Linken wählen” http://www.wahlfahrt09.de/menschen/ich-bin-protestwahlerin-ich-geh-die-linken-wahlen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=ich-bin-protestwahlerin-ich-geh-die-linken-wahlen http://www.wahlfahrt09.de/menschen/ich-bin-protestwahlerin-ich-geh-die-linken-wahlen/#comments Mon, 17 Aug 2009 14:48:30 +0000 Ulrike Linzer http://www.wahlfahrt09.de/?p=587 Halle_Bruchhaus

HALLE. Susanne ist 1995 von München nach Halle gezogen. Die 45-Jährige wohnt im Glauchaviertel, einem Gründerzeitstadtteil von Halle, in dem 30 Prozent der Häuser leer stehen und verfallen. Sie erzählt von den Problemen in ihrer Straße und warum sie mit der Politik der Großen Koalition nicht zufrieden ist.

Ich bin ein paar Jahre nach der Wende von München nach Halle gezogen, wegen eines Jobs in der Gastronomie. Heute bin ich selbstständig und arbeite von zuhause am Telefon. Seit zehn Jahren wohne ich im Glaucha-Viertel, einem Stadtteil von Halle, in dem die Mieten relativ günstig sind. Das liegt daran, dass die Häuser ziemlich verfallen sind, die Altbauten stehen zu 30 Prozent leer, und die Besitzer haben kein Geld die Häuser instand zu setzen. Viele sind auch denkmalgeschützt.

Es ist ein sehr gemischtes Viertel. Hier wohnen Familien und Studenten, aber auch Prostituierte und Zuhälterpack. Gegenüber von mir ist ein Haus, in dem vor allem Schwarzafrikaner leben, die haben auch einen Treffpunkt zum Billardspielen und Biertrinken eingerichtet. Da ist immer viel los, aber die sind sehr freundlich.

Halle_Bruchhaus2_600x400Ich will hier im Viertel bleiben, aber aus meinem Haus möchte ich so schnell wie möglich raus. Wir haben nicht immer warmes Wasser und der Besitzer kümmert sich nicht darum, es instand zu halten. Sehen Sie die Risse im Treppenhaus? In jeder Etage wird es schlimmer. Und an der Tür zum Innenhof hat die Stadt Halle Schilder angebracht, auf denen `Achtung Lebensgefahr´ steht. Das Nachbarhaus ist nämlich einsturzgefährdet. Da hat sich seit zehn Jahren keiner mehr drum gekümmert. Schauen Sie, hier ist schon eine Mauer eingestürzt, und die Balkone da oben sehen ziemlich wackelig aus. Und da sind überall Tauben im Haus, hören Sie mal das Gurren. Pfui Deibel. Das ist doch kein Zustand. Aber die Stadt macht ja hier nichts, die ist doch selber pleite.

Mit der Politik unserer Bundesregierung bin ich nicht zufrieden, die machen doch nichts für uns. Angie ist gut, aber die ist in der falschen Partei. Die SPD kann man auch nicht wählen, die haben doch keine Visionen. Ich bin Protestwählerin, ich gehe die Linken wählen.

Protokoll: Ulrike Linzer, Fotos: Sylvie Gagelmann

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Großherzige Hausbesetzer in Halle http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/grosherzige-hausbesetzer-in-halle/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=grosherzige-hausbesetzer-in-halle http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/grosherzige-hausbesetzer-in-halle/#comments Mon, 17 Aug 2009 11:41:05 +0000 Ulrike Linzer http://www.wahlfahrt09.de/?p=960 Erschienen auf Spiegel Online am 26. August.

HALLE. In dem halleschen Viertel Glaucha erwarten die Bewohner nicht mehr viel von der Politik. Häuser verfallen, vergeblich sucht man öffentliche Parks oder Spielplätze. Doch Anwohner und Studenten übernehmen jetzt selbst Verantwortung – und zaubern einen Gemeinschaftsgarten in die Tristesse.

Von Ulrike Linzer

Wie eine Geisterstadt wirkt der hallesche Stadtteil Glaucha am Sonntagnachmittag. Tauben gurren hinter zugemauerten Türen und Fenstern. Auf der Straße liegt Müll, in vielen Hausfluren verrotten alte Möbel, aus den Briefkästen quellen Werbebroschüren. Passanten gibt es nicht. Nur eine Frau steht auf der Straße in der Sonne und raucht.

Susanne M. ist 1995 von München nach Halle gezogen. Sie will ihren Nachnamen nicht nennen, wegen der Nachbarn. Die 45-Jährige lebt hier seit zehn Jahren, “ein sehr gemischtes Viertel”. Familien und Studenten wohnten hier, aber auch Prostituierte und Zuhälterpack – in Gründerzeitgebäuden, Hochhäusern und Plattenbauten. Der Stadtteil Glaucha gilt als Problemfall, 30 Prozent der Häuser stehen leer, viele müssen saniert werden. Wegen der günstigen Mieten ziehen, wenn überhaupt, sozial schwächere Haushalte hierher.

Ar_DivaInGrau_72Foto: Sylvie Gagelmann

Susanne M. führt durch das Treppenhaus, zeigt auf Risse in den Mauern, die mit jedem Stockwerk größer werden. An der Tür zum Innenhof hat jemand Schilder angebracht: “Achtung Lebensgefahr”. Seit zehn Jahren steht das Nachbarhaus leer, es wurde nichts mehr daran gemacht. Geröll von nebenan liegt im Hof.

“Das ist doch kein Zustand”, sagt Susanne M., “aber die Stadt macht ja hier nichts, die ist doch selber pleite.” Früher nannte der Volksmund Halle die “Diva in Grau”, vor allem die chemische Industrie hatte sich hier angesiedelt. Doch seit der Wende sind 70.000 Menschen weggezogen.

Obwohl schon große Teile der Hochhaussiedlungen aus den siebziger Jahren abgerissen wurden, stehen immer noch 20 Prozent der Häuser leer. In Glaucha sind sogar 30 Prozent verwaist. Hier gibt es kaum noch Geschäfte, keine öffentlichen Orte, an denen sich die Bewohner des Viertels treffen könnten. Vergeblich sucht man nach Parks, Spielplätzen oder einfach nur Bänken. Es fehlt ein Ort zur Kommunikation.

Weg mit dem Geröll, her mit dem Garten

Niemand habe wirklich Interesse, sagt Susanne M., “oder Visionen, wie es weitergehen kann.” Sie gibt der Linken ihre Stimme: “Ich bin Protestwählerin.” Wie sie fühlen sich viele in Halle von der Politik allein gelassen.

Aus demselben Grund steht Martin Krause zusammen mit etwa 25 Helfern in einer Baulücke. Menschen verschiedener Nationalitäten schaufeln Erde, pflanzen und räumen Geröll beiseite. Kinder tragen Gießkannen voll Wasser zu den künstlich angelegten Teichen. Nur die Hunde liegen faul in der Sonne. Am Abend ist es so weit: Halles erster Stadt- und Bürgergarten wird eröffnet. Der Garten ist das neueste Projekt des Vereins “Postkult”. Mit seiner Initiative will Krause etwas dafür tun, dass Menschen aus dem Viertel sich treffen, miteinander sprechen und etwas Neues entstehen lassen.

Flamenco und Kinderschminken gegen den Verfall

“Wenn man das Gefühl einer Nachbarschaft herstellen will, dann braucht man Orte, wo sich Leute miteinander verbinden und auch etwas zusammen tun”, sagt Krause. Sonst funktioniere nichts mehr in einer Gemeinschaft. Sein Verein entstand 2007, als der Student und mit einigen Kommilitonen in einem alten Postamt ein interkulturelles Festival organisierte. Seitdem engagieren sie sich für die Wiederbelebung von leer stehenden Gebäuden durch kreative und soziale Nutzung. Und seit Januar diesen Jahres sogar dafür, ein ganzes Quartier neu zu beleben.

37_MartinFoto: Sylvie Gagelmann

“Glaucha ist ja ein Innenstadtviertel, aber es wirkt wie abgehängt, hier passiert seit langem nichts mehr”, sagt Martin Krause – und will dies ändern. “Postkult” hat zwei Treffpunkte geschaffen, an denen diskutiert und getrunken wird, Filme und Ausstellungen gezeigt werden. Im Juni organisierten sie erstmals die “Fête de la Musique” mit Flamencoklängen und Kinderschminken.

An dem Gemeinschaftsgarten haben Vereinsmitglieder, Anwohner und Jugendliche aus ganz Europa im Rahmen eines internationalen Workcamps gewerkelt. In zwei Wochen ist aus einer Baulücke der “Garten für Glaucha” geworden. Er soll Bewohnern offen stehen und für Kindergärten und Schulen ein Ort für Umweltbildung sein, erklärt Martin Krause.

Menschen motivieren, Kinder von der Straße holen

Seine kurzen Hosen und das T-Shirt sind mit Blumenerde bekleckert, die verschwitzten Haare stehen vom Kopf, als er auf die andere Straßen zeigt: “Direkt hier gegenüber lag das Geburtshaus von Margot Honecker. Die ist hier im Viertel auch zur Schule gegangen.”

Die Mitglieder von “Postkult” sind nicht die Einzigen, die sich um leer stehende Altbauten kümmern. Der Verein “Haushalten Halle” verfolgt mit seinen “Wächterhäusern” ein ähnliches Konzept: Gebäude sollen gerettet werden – durch Bewohnen. Die Nutzer zahlen keine Miete, übernehmen aber die Nebenkosten und erhalten die Bauten. “Hauswächter passen auf, dass es nicht reinregnet und keiner die Scheiben einschmeißt. Sonst würde es schnell schimmeln. Ein Haus wird gewissermaßen konserviert”, erklärt Stephan Schirrmeister.

Mehr Läden, mehr Galerien, mehr Cafés

Die Idee stammt aus Leipzig, wo seit 2004 schon zwölf Gebäude wieder belebt wurden. Derzeit ist der 28 Jahre alte Schirrmeister für den Hallenser Verein auf der Suche in Glaucha. “Die Häuser müssen bestimmte Auflagen erfüllen, denn wir haben selber kein Geld, um in große Sanierungen zu investieren.” Sie wollen sich jetzt um die vielen leer stehenden Gewerberäume kümmern.

Glaucha brauche mehr Läden, Galerien oder Cafés, meint Schirrmeister. Studenten interessierten sich dafür, hier eine Fahrradwerkstatt zu eröffnen, in der sie nicht nur günstig Ersatzteile und Hilfe bei der Reparatur anbieten, sondern auch Geschichten zu den alten Gebäuden erzählen.

Ohne Vereine wie “Postkult” und “Haushalten Halle” wäre Glaucha ein ödes Ghetto. Durch sie werden nicht nur leer stehende Häuser vor dem Verfall bewahrt, sondern auch Menschen motiviert und Kinder von der Straße geholt. Das nehmen inzwischen auch die Behörden wahr – und machen die Initiativen zu Kooperationspartnern.

“Durch Leerstand Potentiale freisetzen”

Im Rahmen der für das kommende Jahr geplanten “Internationalen Bauausstellung” werden nun die Graswurzelprojekte von offizieller Seite unterstützt. Ein von der Stadt beauftragter Bausachverständiger vermittelte “Postkult” Räume für ihr Kulturlabor und setzte sich auch für die Baulücke ein, in der jetzt der Stadtteilgarten entstanden ist.

“Unsere Idee ist aufgegangen”, sagt Krause. “Wir wollten dem Desinteresse der Bewohner und der Verantwortlichen etwas entgegensetzen und den Menschen bewusst machen, dass durch den Leerstand auch Potentiale freigesetzt werden können.”

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Rundgang durch Halle Glaucha, Fotoslideshow von Sylvie Gagelmann

An ihm vorbei tragen zwei junge Männer wahlplakatgroße Aufsteller mit Fotos, die nun auch den Garten zieren sollen. Es sind Porträts von den Menschen im Viertel, die der Künstler Matthias Wissmann in den letzten Monaten gemacht hat und nun zur Eröffnung des Gemeinschaftsgarten ausstellt. Die Bilder zeigen die Bewohner von Glaucha auf der Straße, mit ihren Hunden oder Einkaufsbeuteln.

Ein 55-Jähriger, der auch auf den Fotos zu sehen ist, verputzt gerade mit einem Spachtel Mörtel auf einer Mauer, um ein Muster anzubringen. Zwei Kinder stehen neben ihm und drücken bunte Steine als Ornamente in die Wand.

Hier gehts zum Video von Jens Christian Kage von der Eröffnung des Gemeinschaftsgartens in Glaucha:
http://www.wahlfahrt09.de/orte/ein-garten-fur-glauchahalle

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Auf ein Bier mit … Christoph Kuhn, Schriftsteller http://www.wahlfahrt09.de/menschen/auf-ein-bier-mit-christoph-kuhn-schriftsteller/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=auf-ein-bier-mit-christoph-kuhn-schriftsteller http://www.wahlfahrt09.de/menschen/auf-ein-bier-mit-christoph-kuhn-schriftsteller/#comments Sat, 15 Aug 2009 15:50:09 +0000 JC Kage http://www.wahlfahrt09.de/?p=1354

HALLE. Der Schriftsteller Christoph Kuhn kennt sich aus mit der jüngeren deutschen Geschichte. Sein jüngster Roman “Die hinteren Gründe” beschäftigt sich mit dem Leben in der DDR. In “Auf ein Bier mit…” erzählt er, wie schnell vergessen wird, dass Ost- oder Westdeutsch zu sein egal ist und was ihn am Bundestagswahlkampf stört.

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NPD-Plakatwelle macht Polen und Deutsche wütend http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/npd-plakatwelle-macht-polen-und-deutsche-wutend/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=npd-plakatwelle-macht-polen-und-deutsche-wutend http://www.wahlfahrt09.de/geschichten/npd-plakatwelle-macht-polen-und-deutsche-wutend/#comments Sat, 15 Aug 2009 08:12:07 +0000 Lu Yen Roloff http://www.wahlfahrt09.de/?p=964 Erschienen am 21.8.2009 auf Spiegel Online

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Foto: Michael Bennett

GÖRLITZ. Fremdenfeindliche Parolen an der deutsch-polnischen Grenze: Vor der sächsischen Landtagswahl überschwemmt die NPD die Europastadt Görlitz mit ihren Plakaten. Die Bürger wehren sich – doch die Aktionen drohen das ohnehin fragile Verhältnis der Nachbarländer in der Region zu gefährden.

“Wissen Sie, was hier steht?”, ruft Frank Gotthilf und fuchtelt mit der polnischen Zeitung “Gazeta Powiatowa”. Neben ihm steht der Pole Mariusz Klonowski, Redakteur der Zeitung und tippt auf die Schlagzeile: “Die Würde der Polen ist verletzt!” Und übersetzt weiter: “Wie die Deutschen ausnahmslos von uns die Beachtung der Vorschriften in Deutschland verlangen, so müssen wir von ihnen ausnahmslos die Achtung unserer Rechte in Europa verlangen.”

Die beiden Mitglieder des deutsch-polnischen Unternehmervereins Innovation Neiße Region sind zum Wahlfahrt09-Stand gekommen, um die polnischen Reaktionen auf die NPD-Plakate zu schildern, die überall im Stadtraum hängen. Mit den Slogans “Poleninvasion stoppen” und “Ausländer raus” versucht die NPD in der Grenzstadt Görlitz, einen Keil zwischen Deutsche und Polen zu treiben.

Besonders perfide wirken die fremdenfeindlichen Plakate in den Straßen entlang der Neiße: Am anderen Ufer des Flusses liegt die polnische Nachbargemeinde Zgorzelec. Damit sind die Plakate ein direkter Affront für jeden Polen.

Täglich passieren Tausende Deutsche und Polen die Brücke am Grenzübergang, um auf der anderen Seite einzukaufen und zu arbeiten. Kontrollen gibt es nicht mehr – der Wechsel zwischen den Ländern ist zur Routine geworden. Touristen erkennen die Europastadt Görlitz/Zgorzelec auf den ersten Blick kaum als zweigeteilt. Auf beiden Seiten der Neisse sitzen Menschen in Cafés und auf Uferbänken, eine Fußgängerbrücke führt unterhalb der Altstadtmauern über den Fluss. Nur unmittelbar hinter der Grenze locken auf polnischer Seite grellbunt beschilderte Kioske mit günstigen Zigaretten, die Stange für 27 Euro.

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“Wissen Sie, wie das dem Image von Görlitz schadet?”, erbost sich Frank Gotthilf. Görlitz/Zgorzelec lebt vom gegenseitigen wirtschaftlichen Austausch. Viele Polen seien sehr wütend, bis nach Warschau seien die Beschwerdebriefe inzwischen gelangt. Bis zu fünfzig Prozent der Umsätze in hochpreisigeren Görlitzer Geschäften würden von polnischen Einkäufern stammen.

Rund 2000 Polen haben Wohnungen in Görlitz, es gibt gemeinsame Kindergärten, Jugendclubs und zweisprachige Theaterstücke, sagt Gotthilf. Nun bedrohe die NPD-Kampagne grenzüberschreitend tätige Unternehmer. Gotthilf und Klonowski haben deswegen eine Verfassungsbeschwerde gegen die NPD eingereicht, sie berufen sich darin auf Artikel 14 der sächsischen Verfassung: die Menschenwürde.

Besonders brisant finden Klonowski und Gotthilf die fremdenfeindlichen NPD-Plakate für das Image der Stadt Görlitz als “Europastadt”. Die sächsisch-polnische Grenzstadt bewarb sich um den Titel “Europäische Kulturhauptstadt 2010″ und präsentierte sich mit deutsch-polnischen Kultur- und Bildungsangeboten. Insgesamt rund zwei Millionen Euro wurden von 2002 bis 2006 in das eigens eingerichtete Büro gepumpt.

“Die Kampagne ist ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die hart daran arbeiten, dass aus den zwei getrennten Hälften eine gemeinsame Europastadt wird”, sagt auch Matthias Vogt vom Institut für kulturelle Infrastruktur Sachsen. Die Strategie der NPD in Görlitz beruhe auf Vorurteilen der Görlitzer Bevölkerung aus DDR-Zeiten. 1981 habe die polnische Regierung aufgrund der erstarkenden Gewerkschaft Solidarnosc ein mehrmonatiges Kriegsrecht in Polen verhängt. Zuvor war die Grenze von 1972 bis 1980 geöffnet. Dass die Polen damals die Waren in den grenznahen Läden quasi leergekauft hätten, sei bis heute “tief in den Hinterköpfen verankert”.

“Ein ganz gefährlicher Mann”

Die Plakatflut der NPD suggeriere eine viel stärkere Präsenz der Partei in der Stadt als real vorhanden sei. Nur etwa zwei Prozent der Görlitzer sind “echte Braune”, schätzt Vogt. Diese versuchen an jene unter den älteren Görlitzern zu appellieren, die als Kriegsflüchtlinge in die Stadt gekommen seien. Ihre Nachkommen redeten bis heute von Niederschlesien und meinten damit ihre verlorene schlesische Heimat. Hinzu kämen die “dumpfen Verlierer”, die sich der Schnelligkeit des heutigen Wirtschafts- und Gesellschaftslebens nicht gewachsen fühlten. Weil die Linke für Protestwähler zu wenig Potential biete, hätten bei der vergangenen sächsischen Landtagswahl vor fünf Jahren 9,7 Prozent die NPD gewählt.

Die Kampagne der Rechtsextremisten bewertet Vogt als Verzweiflungstat. Denn die NPD habe in den letzten fünf Jahren “der Welt nachdrücklich bewiesen, dass sie weder intellektuell noch rhetorisch als Fraktion auftreten könne. Und in dieser Situation setzt die Görlitzer NPD systematisch auf Fremdenängste und hat entsprechend plakatiert”.

Knapp 2700 Stimmen haben Görlitzer Wähler dem NPD-Mitglied Andreas Storr bei den Kommunalwahlen am 7. Juni 2009 gegeben und ihn damit in den Stadtrat gewählt. Andere Stadträte beschreiben ihn als “ganz gefährlichen Mann”, der parlamentarische Prozesse nutze, um die Arbeit des Stadtrats zu blockieren, etwa in dem er ansonsten einstimmige Beschlüsse behindere und demokratische Prozesse so unnötig verlangsame. Zudem störe er Diskussionen mit NPD-Parolen.

600 Plakate gegen die NPD

Zwar habe der Stadtrat einstimmig beschlossen, den NPD-Mann Storr politisch zu isolieren, sagt Andreas Teichert von der unabhängigen Wählervereinigung “Bürger für Görlitz”: “Der Mann soll merken, dass er bei uns keinen Rückhalt und keine Zustimmung findet.” Doch die Nationaldemokraten in Görlitz bleiben aktiv. Sie demonstrierte jüngst gegen die Wehrmachtsausstellung und gibt das NPD-Blatt “Blickpunkt” in einer Auflage von 70.000 Stück heraus.

“Görlitz sagt Nein! zur NPD” verkünden deshalb dicke weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund seit rund einer Woche überall in der Stadt. Initiiert vom Verein “Aktionskreis für Görlitz” haben sich Bürger mit einer Plakataktion gegen die NPD gewehrt. Einzelpersonen, Parteien und Vereine spendeten Gelder, um 600 Plakate in der Stadt und an den Einfallsstraßen aufhängen zu lassen. Bürgermeister Michael Wiehler traf sich auf der Brücke am Grenzübergang mit dem polnischen Bürgermeister und übergab symbolisch ein Anti-NPD-Plakat.

Es ist bereits die zweite Anti-NPD-Kampagne der Stadt innerhalb weniger Wochen. Erst vor kurzem hatte die “Sächsische Zeitung” 400 Porträts von Görlitzern abgedruckt, die sich unter ihrem Namen gegen die Partei aussprachen. “Wir Görlitzer Bürger sind gegen die NPD”, fasst Joachim Rudolph vom Aktionskreis für Görlitz zusammen. “Wir bekommen täglich Anrufe von Bürgern, die unsere Kampagne unterstützen.” Auch wenn die NPD die Lage anders darstelle: “Es gibt eine Menge Normalität an dieser Grenze.”

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